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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Reitern oder bösen Feen - von echten Geistern, die über die
     Schlachtfelder unserer Erinnerung wandeln und ewig flüstern: Vergiss
     mich nicht. Das war die Erkenntnis, die mir kam, als ich eines Abends bei
     Sonnenuntergang allein auf einem Hügel über London saß. Zu
     meinen Füßen erstreckte sich Hampstead Heath bis hinunter an
     die silbergrauen Gestade der großen Stadt. Auf meinem Schoß
     lag eine kleine, in Goldpapier gewickelte Schachtel. Die Schleife war noch
     unversehrt.
    Behutsam hielt ich die
     Schachtel hoch.
    »Was ist das?«,
     hatte ich am Nachmittag gefragt, und die Schärfe meiner Stimme hatte
     durch die Schatten der unteren Galerie des Globe Theatre geschnitten, wo
     ich die Regie bei ›Hamlet‹ führte. »Eine
     Wiedergutmachung? Oder Schweigegeld?«
    Vor mir saß Rosalind
     Howard, Harvards exzentrische Shakespeare-Professorin - eine Mischung aus
     Amazone, erdiger Mutter und Zigeunerbaronin. Eindringlich beugte sie sich
     zu mir vor. »Ein Abenteuer. Und, wie es aussieht, ein Geheimnis.«
    Ich schob den Finger unter
     die Schleife, doch Ros griff nach meiner Hand und hielt mich auf. Ihre grünen
     Augen suchten meinen Blick. Ros war um die fünfzig, hatte kurzes
     dunkles Haar und trug große, funkelnde Ohrringe, die von ihren Ohrläppchen
     baumelten. Sie trug einen breitkrempigen weißen Hut mit Pfingstrosen
     aus üppiger dunkelroter Seide - ein auffälliges Ding, das an das
     Hollywood der alten Zeit erinnerte. »Wenn
     du die Schachtel öffnest, musst du dem Weg folgen, den sie dir weist.«
    Einst war Ros meine Mentorin
     gewesen, mein leuchtendes Vorbild und beinahe so etwas wie eine zweite
     Mutter. Und während sie die Matriarchin spielte, war ich stets die
     pflichtbewusste Schülerin - bis ich mich vor drei Jahren entschloss,
     meine akademische Laufbahn aufzugeben und ans Theater zu gehen. Es hatte
     schon vorher zwischen uns zu kriseln begonnen, doch mein Weggang aus
     Harvard führte zum endgültigen Bruch. Ros machte keinen Hehl
     daraus, dass sie meine Flucht aus dem Elfenbeinturm als Verrat
     betrachtete. Für mich war es eine Flucht nach vorn, auch wenn Ros
     mich hinter meinem Rücken als Deserteurin bezeichnete, wie ich später
     erfuhr. Doch das blieben Gerüchte. Seitdem hatte ich kein Wort des
     Bedauerns oder der Aussöhnung von ihr gehört, bis sie plötzlich
     an diesem Nachmittag ohne Vorwarnung im Globe auftauchte und mich um ein
     Gespräch bat. Widerwillig unterbrach ich die Proben für eine
     Viertelstunde. Eine Viertelstunde mehr, dachte ich, als sie verdiente.          
    »Du liest zu viele Märchen«,
     sagte ich laut und schob die Schachtel zurück zur ihr. »Falls
     der Weg, den sie weist, nicht direkt zurück zur Probe führt,
     kann ich sie nicht annehmen.«
    »Die kecke Kate«,
     sagte Ros mit einem wehmütigen Lächeln. »Du kannst nicht
     oder du willst nicht?«
    Ich schwieg.
    Ros seufzte. »Ob du sie
     aufmachst oder nicht, ich will, dass du sie hast.«
    »Nein.«
    Ros neigte den Kopf und
     musterte mich. »Ich habe etwas entdeckt, Liebes. Ich habe etwas Großes
     entdeckt.«
    »Genau wie ich.«
    Sie ließ den Blick
     durch das Theater schweifen - über die rohen Fachwerkgalerien, drei
     Stockwerke hoch, und die Bühne, die am anderen Ende in den Innenhof
     ragte, prunkvoll herausgeputzt mit künstlichem Marmor und falschem
     Gold. »Ein echtes Husarenstück, am Globe den ›Hamlet‹
     zu inszenieren. Umso mehr für jemanden wie dich - so jung, aus den
     Staaten und vor allem eine Frau. Wo die britische Theaterwelt der
     snobistischste Haufen auf dem Erdball ist.
    Glaub mir, es gibt niemanden,
     dem ich es mehr gönne, die Insel-Elite aufzumischen, als dir.«
     Ihr Blick glitt zu dem Geschenk, das zwischen uns auf dem Tisch lag, dann
     sah sie mir in die Augen. »Aber das hier ist größer.«
    Ich starrte sie ungläubig
     an. Verlangte sie im Ernst von mir, dass ich mir den Staub des Theaters
     von den Stiefeln streifte und ihr folgte, allein auf ein paar Andeutungen
     hin und eine lächerliche, in Goldpapier gewickelte Schachtel? 
    »Was steckt dahinter?«,
     fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
     »Es ist in mein Gedächtnis fest verschlossen, und Ihr solltet
     selbst dazu den Schlüssel führen.«
    Ophelia. Ich stöhnte
     innerlich. Von Ros hätte ich wenigstens den Hamlet erwartet - die
     Hauptfigur in der Bühnenmitte. »Kannst du ein Mal aufhören
     in Rätseln zu sprechen, wenigstens für zwei Minuten?«
    Sie nickte in
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