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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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nach der Probe abgekürzt. Hatte ich vergessen, auf dem Tisch,
     der mir als Schreibtisch diente, die Lampe auszumachen? Hatte ich sie
     umgestoßen, und sie hatte in meiner Zettelwirtschaft einen
     Schwelbrand verursacht, der nur darauf wartete aufzulodern, sobald alle
     gegangen waren? Schon einmal war aus reiner Unachtsamkeit das Globe
     abgebrannt, gegen Ende von Shakespeares Leben. Damals hatten, wenn ich
     mich recht erinnerte, alle fliehen können - bis auf ein Kind.
    Mein Gott. Hatten es alle
     nach draußen geschafft?
    Mach, dass es nicht das Globe
     ist, betete ich beschwörend im Rhythmus der ratternden Bahn. Bis ich
     endlich bei St. Pauls die Treppen hinaufrannte, zwei Stufen auf einmal,
     war es Nacht geworden. Ich rannte durch eine Gasse und kam auf einen
     offenen Platz. Wie eine Sphinx lag die massige Kathedrale vor mir und
     versperrte mir den Blick auf den Fluss. Ich wandte mich nach rechts und
     begann zu rennen, vorbei an dem gusseisernen Gitter um den Kirchhof,
     vorbei an den Bäumen, die an der ehrwürdigen Fassade kratzten.
     Links um das säulenbewehrte Hauptportal, vor dem eine steinerne Queen
     Anne gen Westen nach Ludgate Hill blickte. Und wieder links, im großen
     Bogen um die Südfassade herum zu dem
     Fußgängerweg, der erst seit Kurzem durch das Gewirr der
     mittelalterlichen Gassen schnitt und einen weiten Blick freigab, von der
     Kathedrale bis hinüber über den Fluss auf die andere Seite. Ich
     bog um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen.
    Der Weg neigte sich zum
     Fluss. Dort lag die Millennium-Fußgängerbrücke, die in
     hohem Bogen über den Fluss zur massigen Backsteinfestung der Tate
     Modern am Südufer führte. Noch konnte ich das Globe nicht sehen,
     das links neben dem Museum stand. Ich sah nur den mittleren Teil der Tate,
     die mehr an das Kraftwerk erinnerte, das sie ursprünglich war, als an
     den Tempel moderner Kunst, zu dem man sie ausgebaut hatte. Der alte
     Schornstein ragte in die Nacht hinauf. Das neue Obergeschoss, eine breite
     Krone aus grünem Glas und Stahl, leuchtete wie ein Aquarium. Im
     Hintergrund war der Himmel grellorange.
    Normalerweise war dieser Teil
     Londons - die eigentliche City, das Bankenherz Englands - nach Einbruch
     der Dunkelheit so gut wie ausgestorben, doch jetzt strömten von
     überall her Menschen zum Ufer. Ich schloss mich ihnen an, drängelte
     mich durch die wachsende Menge. Vorbei an Blumenrabatten und Parkbänken.
     Links ein Pub wie bei Dickens, rechts moderne Büros. Auf der Victoria
     Street, die der Fußweg kreuzte, herrschte Stillstand. Ich zwängte
     mich an roten Doppeldeckerbussen und rundlichen schwarzen Taxis vorbei und
     hastete weiter.
    Weiter unten verengte sich
     der Fußweg. Eine dichte, dampfende, pulsierende Menschenmasse schob
     sich auf die Millennium Bridge, jeder wollte einen Blick auf den Brand
     erhaschen. Ich verlor den Mut. So würde ich es nie über die Brücke
     schaffen. Suchend blickte ich mich um. Doch ich steckte in der Menge fest,
     und solange mir keine Flügel wuchsen, kam ich von hier aus
     nirgendwohin.
    Plötzlich rauschte ein
     tiefes Brüllen über das Wasser, und am anderen Ufer stob eine
     Rauchwolke in den Himmel, gejagt von einem Funkenregen. Die Menge seufzte,
     wogte in Richtung der Brücke, zog mich mit. Rechts tat sich eine
     Öffnung auf, und ich entdeckte eine schmale Treppe, die nach unten führte.
     Verzweifelt kämpfte ich mich zum Rand, stolperte, rutschte die Stufen
     hinunter und war endlich frei. 
    Ich blieb an einem kleinen
     Absatz, drei Meter unter der Millennium Bridge, stehen und blickte zum
     anderen Ufer. Das Globe stand in Flammen. Der Rauch quoll über die
     Mauern wie schwarzes Blut und wurde vom Dach in die Luft gespien.
     Dazwischen leckten die Flammen in die Nacht - wie Zinnen und Wimpel, gelb,
     orange und rot.
    Das Telefon in meiner Tasche
     klingelte. Es war Sir Henry Lee, der alternde Löwe der britischen Bühne,
     der mein Stück als der Geist von Hamlets Vater beehrte. »Kate!«,
     rief er, als ich das Telefon aufklappte. »Gott sei Dank!« Im
     Hintergrund hörte ich das Heulen von Sirenen. Er war dort.
    Ich konnte meine Angst nicht
     unterdrücken. »Sind alle rausgekommen?«
    »Wo -«
    »Sind alle draußen?«
    »Ja«, sagte er
     gereizt. »Alle sind draußen. Du warst die Letzte, die wir
     gesucht haben. Wo zum Teufel steckst du?«
    Überrascht stellte ich
     fest, dass mir Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen.
     Ich wischte mir
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