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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition)
Autoren: Stefan Bachmann
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nicht eher so aus, als…« Hettie blickte ihn an, und ganz kurz flackerte Furcht in ihren Augen auf. »Als würde sie nach etwas suchen?«
    Bartholomew ließ von seinem Daumennagel ab und sah seine Schwester an. Dann drückte er ihre Hand. »Sie sucht nicht nach uns, Hettie.«
    Doch noch während er das sagte, spürte er, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Natürlich suchte sie nach etwas. Oder nach jemandem. Unter der Krempe ihres Hutes hervor glitt ihr Blick von einem Haus zum nächsten. Als sie an dem Haus vorbeikam, in dem sie wohnten, duckte sich Bartholomew unter den Fenstersims. Hettie war ihm bereits zuvorgekommen. Gib acht, dass dich niemand bemerkt, dann landest du auch nicht am Galgen. Für Mischlinge gab es möglicherweise keine wichtigere Regel. Es war eine gute Regel.
    Die Dame in dem pflaumenfarbenen Kleid schritt weiter, bis sie die Ecke erreichte, wo die Krähengasse in den Schwarzkerzenweg mündete. Ihr Rock schleifte über das Pflaster und wurde ganz schwer von der öligen Schmiere, die alles bedeckte, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie drehte sich einfach ganz langsam um und ging wieder zurück, wobei sie dieses Mal die Häuser auf der anderen Seite in Augenschein nahm.
    Erst nachdem sie die Krähengasse bestimmt sechs oder sieben Mal auf und ab gelaufen war, blieb sie stehen, und zwar vor einem Haus, das dem Fenster, durch das Bartholomew und Hettie sie beobachteten, direkt gegenüberlag. Es war ein schiefes Haus mit spitzem Dach und mit Schornsteinen und Türen, die an den seltsamsten Stellen aus dem Gemäuer hervorlugten. Rechts und links davon erhoben sich zwei größere Häuser und zwängten es ein. Außerdem war es ein wenig von der Gasse zurückgesetzt und hinter einer hohen Steinmauer verborgen. In der Mitte der Mauer öffnete sich ein Torbogen, und dort lagen die verbogenen Überreste eines eisernen Gatters. Die Dame machte einen Schritt darüber hinweg und betrat den Vorgarten.
    Bartholomew wusste, wer in dem Haus wohnte: eine Mischlingsfamilie. Die Mutter war eine Fee, und der Vater schuftete in der Kanonengießerei an der Heilkundlerstraße am Blasebalg. Er hatte gehört, dass sie Buddelbinster hießen. Früher hatten sie sieben halbblütige Kinder gehabt, die Bartholomew oft hinter den Fenstern und Türen hatte spielen sehen. Aber auch andere Leute hatten sie gesehen, und eines Nachts war eine aufgebrachte Menschenmenge gekommen und hatte die Kinder fortgeschleppt. Jetzt war nur noch eines übrig, ein schwächlich wirkender Junge. Bartholomew und er waren Freunde. Wenigstens wollte Bartholomew das gerne glauben. Hin und wieder, wenn die Krähengasse besonders still dalag, schlich sich der Junge hinaus aufs Pflaster und kämpfte mit einem Stock in der Hand gegen unsichtbare Straßenräuber. Meist bemerkte er dann, wie Bartholomew ihn durchs Fenster hindurch anstarrte, und winkte ihm. Und Bartholomew winkte zurück. Das war streng verboten, aber es machte einen solchen Spaß, dass Bartholomew dies manchmal vergaß.
    Die Dame in dem pflaumenfarbenen Kleid stolzierte über den mit losem Gestein übersäten Vorgarten und klopfte an der Tür, die dem Boden am nächsten war. Eine halbe Ewigkeit verstrich, und nichts geschah. Dann wurde die Tür aufgerissen, soweit die vorgelegte Kette das zuließ, und eine griesgrämig dreinblickende Frau steckte den Kopf durch den Spalt – die Schwester des Vaters, die Tante des Jungen und eine alte Jungfer. Sie lebte bei den Buddelbinsters und kümmerte sich um deren Haushaltung. Dazu gehörte auch, die Tür aufzumachen, wenn jemand anklopfte. Bartholomew entging nicht, dass ihre Augen so rund wurden wie Untertassen, während sie die vornehme Dame anstarrte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann schien sie es sich anders zu überlegen, denn sie knallte der Dame die Tür vor der Nase zu.
    Die Dame in dem pflaumenfarbenen Kleid stand einen Moment lang völlig reglos da, als könnte sie nicht ganz begreifen, was geschehen war. Dann klopfte sie wieder gegen die Tür, und zwar so laut, dass es durch den Vorgarten und über die ganze Krähengasse hallte. Ein paar Häuser weiter zuckte ein Vorhang.
    Bevor Bartholomew und Hettie sehen konnten, was als Nächstes passierte, knarrten die Stufen vor der Tür zu ihrer Wohnung. Jemand kam die Treppe heraufgehastet. Dann platzte eine rotwangige Frau herein, schnaufte laut und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie war klein und ärmlich gekleidet, und mit genug zu essen hätte sie
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