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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition)
Autoren: Stefan Bachmann
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hübsch sein können, aber es gab nie genug zu essen, und so sah sie aus, als wäre ihre Haut ihr zu groß. Als sie die beiden Geschwister am Fenster entdeckte, schlug sie die Hände vor den Mund und kreischte los.
    »Kinder, geht sofort vom Fenster weg!« Mit drei Schritten hatte sie das Zimmer durchquert und packte sie an den Armen. »Bartholomew, ihre Zweige waren direkt vor der Scheibe! Möchtest du, dass euch jemand sieht?«
    Sie scheuchte sie in den hinteren Teil des Zimmers zurück und verriegelte die Tür zum Hausflur. Schließlich wandte sie sich um, und ihr Blick fiel auf den Kanonenofen; durch die Schlitze in der Ofenklappe rieselte Asche.
    »Schau dir das an!«, sagte sie. »Barthy, ich hatte dich gebeten, die Asche fortzubringen. Und außerdem solltest du auf deine Schwester aufpassen und die Wäschemangel aufziehen. Aber du hast nichts davon getan…«
    Augenblicklich hatte Bartholomew die pflaumenfarbene Dame vergessen. »Mutter, es tut mir leid, dass ich nicht an Hetties Äste gedacht habe, aber ich habe eine wirklich gute Idee, die ich dir erklären muss.«
    »Davon möchte ich nichts hören«, antwortete sie erschöpft. »Ich möchte, dass du tust, was ich dir sage.«
    »Aber genau darum geht es ja!« Er räusperte sich, richtete sich zu seiner ganzen Größe auf – immerhin gut ein Meter – und sagte: »Mutter, darf ich bitte, bitte, bitte einen zahmen Hausgeist heraufbeschwören?«
    »Einen zahmen was? Was redest du da, Kind? Wer ist das da drüben im Garten der Buddelbinsters?«
    »Einen Hausgeist. Der bei uns wohnt. Ich möchte einen Feendiener zu uns einladen.« Bartholomew zog drei alte Bücher hinter dem Ofen hervor und hielt sie der Mutter unter die Nase. »Hier und hier habe ich etwas darüber gelesen, und hier steht, wie man es macht. Bitte, Mutter.«
    »Beim Lichte der leuchtenden Linse, schaut euch dieses Kleid an. Barthy, leg die Bücher weg, ich kann das Weib ja gar nicht richtig sehen.«
    »Mutter, ein Hausgeist!«
    »Hat bestimmt zwanzig Pfund gekostet, und was macht die alberne Gans? Marschiert damit durch den ganzen Matsch. Ich fass’ es nicht! Außer rostigen Zahnrädern hat die bestimmt nichts im Kopf.«
    »Und wenn ich einen guten Hausgeist heraufbeschwöre und nett zu ihm bin, kümmert er sich hier um alles Mögliche, hilft uns Wasser pumpen…« Seine Mutter schaute nicht mehr zum Fenster hinaus. Ihre Augen waren völlig ausdruckslos geworden, und sie starrte Bartholomew an. »…und die Wäschemangel aufziehen«, schloss er leise.
    »Und was ist, wenn du einen bösen heraufbeschwörst.« Es war keine Frage. »Hör mir jetzt gut zu, Bartholomew Kettle. Wenn wir Glück haben, sorgt er nur dafür, dass die Milch sauer wird, frisst uns den Küchenschrank leer und stiehlt sich mit allem davon, was glänzt. Wenn wir Pech haben, erwürgt er uns im Schlaf. Nein, Kind. Nein. Wage es niemals, durch diese Tür irgendwelche Feenwesen einzuladen. Sie wohnen über uns und unter uns und auf der anderen Seite dieser Wand. Sie sind überall um uns herum, und zwar meilenweit in jeder Richtung. Aber nicht hier. Nicht noch einmal, hast du verstanden?«
    Urplötzlich wirkte sie furchtbar alt. Ihre Hände, die sich in die Schürze gekrallt hatten, zitterten, und Tränen standen ihr in den Augen. Hettie zog sich, mit ernster Miene und so leise wie ein Geist, zu ihrem Schrankbett zurück, kletterte hinein und schloss mit vorwurfsvollem Blick die Tür. Bartholomew starrte seine Mutter an. Sie starrte zurück. Dann drehte er sich um und rannte auf den Treppenflur hinaus.
    Er hörte, wie sie ihm etwas nachrief, blieb jedoch nicht stehen. Gib acht, dass dich niemand bemerkt! Seine bloßen Füße glitten lautlos über die Holzdielen, während er durch das Haus rannte, weiter und immer weiter hinauf. Am liebsten hätte er jedoch geschrien und auf den Boden gestampft. Er wollte unbedingt einen Hausgeist haben. Mehr als irgendetwas sonst auf der Welt.
    Er hatte sich schon ganz genau ausgemalt, wie sich das abspielen würde. Er würde die Einladung aufsetzen, und am nächsten Tag würde ein Hausgeist mit durchscheinenden Flügeln und langen Ohren auf seinem Bettpfosten sitzen und ihn dümmlich angrinsen. Den Hausgeist würde es überhaupt nicht kümmern, dass Bartholomew klein und hässlich war und anders als die anderen.
    Aber nein. Mutter musste ihm alles verderben.
    Über dem obersten Stockwerk des Hauses, in dem die Kettles zusammen mit allerlei Dieben, Mördern und Feen wohnten, befand sich ein
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