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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition)
Autoren: Stefan Bachmann
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taumelte zur Tür hinaus und landete direkt vor den Füßen der Dame. Und starrte mir weit aufgerissenen Augen zu ihr hoch.
    Die Dame hatte Bartholomew den Rücken zugekehrt, aber an der Art und Weise, wie der Junge ängstlich den Kopf schüttelte, erkannte er, dass sie auf ihn einredete. Der Junge warf einen scheuen Blick zur Tür. Die Dame trat einen Schritt auf ihn zu.
    Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Bartholomew, ganz gebannt von dem, was er sah, beugte sich noch ein Stück weiter vor, bis seine Nase die Fensterscheibe berührte. In dem Moment griff sich die Dame unten im Vorgarten ruckartig an den Hinterkopf und schob die Locken auseinander. Bartholomew gefror das Blut in den Adern. Ein Gesicht starrte von dort zu ihm hoch, ein kleines, braunes, verwachsenes Gesicht, das nur aus Falten und spitzen Zähnen zu bestehen schien.
    Mit einem gedämpften Aufschrei hechtete er vom Fenster weg. Holzsplitter bohrten sich ihm in die Handflächen. Es hat mich nicht gesehen, es hat mich nicht gesehen. Woher sollte es überhaupt wissen, dass ich hier war?
    Aber es wusste, dass er hier war. Die feuchten schwarzen Augen hatten ihn direkt angeblickt. Für Sekunden hatte wilder Zorn in ihnen gefunkelt. Und dann hatten sich die Lippen des Unholds geschürzt, und er hatte gelächelt.
    Bartholomew lag um Atem ringend auf den Dielenbrettern; das Herz hämmerte ihm im Schädel. Sie würde ihn umbringen. Ganz bestimmt. Aber er sah doch überhaupt nicht aus wie ein Mischling, oder? Von unten im Vorgarten sah er doch bestimmt wie ein ganz normaler Junge aus! Verzweifelt schloss er die Augen. Ein ganz normaler Junge, der ihr nachspionierte.
    Sehr, sehr langsam hob er den Kopf und spähte hinaus, wobei er sich dieses Mal wohlweislich im Schatten hielt. Die pflaumenfarbene Frau war ein Stück von dem Jungen in dem Vorgarten zurückgewichen. Ihr anderes, fratzenhaftes Gesicht war fort, es verbarg sich wieder unter ihrem Haar. Eine ihrer langen, in Samthandschuhe gehüllten Hände hatte sie nach Bartholomews Freund ausgestreckt und winkte ihn zu sich heran.
    Der Junge sah sie an und schaute dann wieder zum Haus zurück. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte Bartholomew, in einem der oberen Fenster jemanden zu sehen, einen gebückten Schatten, eine zum Abschied vor der Scheibe erhobene Hand. Einen Herzschlag später war die Erscheinung jedoch wieder fort, das Fenster leer.
    Der Junge im Vorgarten zitterte. Wandte sich wieder der Dame zu. Sie nickte. Da stand er auf und nahm ihre ausgestreckte Hand. Daraufhin zog sie ihn an sich, und urplötzlich waren sie beide von Finsternis eingehüllt, vom Schlagen einer Vielzahl schwarzer Flügel, die mit schrillem Kreischen um sie herum und zum Himmel emporstoben. Die Luft kräuselte sich. Dann waren sie fort, und die Krähengasse verfiel wieder in tiefen Schlaf.

ZWEITES KAPITEL

    Der Rat wird getäuscht
    Arthur Jelliby war ein ausgesprochen netter junger Mann, was vielleicht erklärt, weshalb er es als Politiker nie weit gebracht hatte. Er war nicht etwa deswegen Parlamentsabgeordneter, weil er besonders klug gewesen wäre oder sonst über irgendwelche Talente verfügt hätte, sondern weil seine Mutter eine hessische Prinzessin mit guten Verbindungen war und mit dem Herzog von Norfolk Krocket gespielt hatte. Während sich also andere Amtsinhaber abmühten, bis ihnen vor Ehrgeiz fast die Seidenwämser platzten, während sie über Austernsoupers den Sturz ihrer Rivalen planten oder sich wenigstens über Staatsangelegenheiten auf dem Laufenden hielten, war Mr.   Jelliby weit mehr daran interessiert, lange Nachmittage in seinem Club in Mayfair zuzubringen, seiner hübschen Gattin Pralinen zu kaufen oder einfach nur bis mittags zu schlafen.
    Und genau das tat er auch an einem gewissen Tag im August, und deshalb traf ihn die Aufforderung, bei einem Treffen des Staatsrats im Parlamentsgebäude zu erscheinen, völlig unvorbereitet.
    Während er die Treppe seines Hauses am Belgrave Square hinunterstolperte, versuchte er mit einer Hand, sein wirres Haar in Ordnung zu bringen, und mit der anderen, die winzigen Knöpfe an seinem kirschroten Wams zu schließen.
    »Ophelia!«, rief er bemüht fröhlich.
    Seine Gattin erschien in der Tür des Frühstückssalons, und er deutete entschuldigend auf die schwarze Seidenkrawatte, die ihm schlaff unterm Kragen hing. »Der Kammerdiener hat frei, und Brahms weiß nicht, wie das geht, und ich krieg es selbst einfach nicht hin! Knote sie mir, mein Schatz, sei
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