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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition)
Autoren: Stefan Bachmann
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schon.«
    Ganz sanft schob er sie durch das Portal.
    Ihre bloßen Füße versanken im Schnee. Der Wind peitschte durch ihre Zweige und Kleider. Einen Augenblick lang hielten die Flügel inne, als würden sie unter freiem Himmel dahinsegeln. Dann schienen sie abzudrehen und laut kreischend in Richtung des Portals zu fliegen.
    »Was?«, fauchte der Homunkulus, klammerte sich an seiner Kette fest und starrte zu ihnen hinab. »Was machst du da, elendes Kind? Zieh sie wieder raus! Zieh sie raus, oder du siehst sie nie wieder!«
    Doch, das werde ich. Bartholomew wusste, dass es sinnlos war, dem Homunkulus zu antworten. Er hielt den Blick auf Hettie geheftet – gleich würde er ihr zurufen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, dass sie jetzt springen sollte.
    Das Portal fiel in sich zusammen. Je kleiner es wurde, umso schneller kreisten die Flügel, bis plötzlich eine Säule aus Finsternis nach oben schoss, an dem Aufzugskabel entlang auf das Luftschiff zu. Der Homunkulus stieß ein Wimmern aus und wurde verschlungen. Von irgendwo hoch oben grollte lauter Donner.
    Die Flügel füllten das ganze Portal aus, bis nichts anderes mehr zu sehen war. Bartholomew erhaschte nur hin und wieder einen Blick auf die dahinterliegenden Bäume, auf Hetties verängstigtes Gesicht, auf die Hütte und den verschneiten Wald.
    »Jetzt!«, schrie Bartholomew. »Jetzt, Hettie, spring raus. Los! «
    Sie rührte sich nicht. Hinter ihr stand jemand. Eine hochgewachsene, hagere, schattenhafte Gestalt. Auf ihrer Schulter ruhte eine bleiche Hand.
    Bartholomew stürzte vorwärts. Sein Arm durchstieß das Portal. Er spürte Hettie, ihr schmutziges Nachthemd, die Zweige auf ihrem Kopf. Er tastete nach ihrer Hand und versuchte, sie zu sich herüberzuziehen, zurück nach London und in das Lagerhaus. Nach Hause.
    »Komm schon, Hettie, spring!«
    Aber die Flügel waren überall, schlugen auf ihn ein, bedrängten ihn. Hetties Hand entglitt seinen Fingern. Er wurde nach hinten geschleudert, flog durch die Luft, bis er gegen eine Wand aus Kisten prallte. Und rutschte auf den Boden hinab. Alles drehte sich. Etwas Warmes rann ihm über die Stirn. Seine Zunge schmeckte Blut.
    Hettie, dachte er benommen. Hettie muss unbedingt springen. Ihm tat alles weh, doch er rappelte sich langsam auf und setzte einen Fuß vor den anderen. »Hettie«, rief er. »Hettie, du musst…«
    Alles war still. Der Wind hatte aufgehört, und der Lärm auch. Die Flügel waren mitten in der Bewegung erstarrt; berstende Holzkisten, Haken und Ketten schwebten reglos in der Luft. Das Portal war ein formvollendeter Kreis in der Mitte des Lagerhauses. Und von ihm umrahmt, klein und einsam unter dem Baldachin der Bäume, stand Hettie.
    Sie sah Bartholomew an, ihre schwarzen Augen von entsetzlicher Angst erfüllt. Tränen rannen ihr über die spitzen Wangen. Sie hob eine Hand.
    Dann ertönte ein Geräusch, als würde eine Violinensaite reißen. Der Bann war gebrochen. Alles setzte sich wieder in Bewegung. Von allen Seiten regneten Trümmer herab – Holz von den Kisten, Mauerwerk von den Wänden, Propeller und brennende Leinwandfetzen vom Luftschiff. Das Portal löste sich auf.
    Bartholomew stieß einen wilden Schrei aus. Er rannte zu der Stelle, wo es gewesen war, fuhr mit den Fingern durch die Luft, fuhr über die Steinplatten.
    »Spring!«, rief er. »Spring, Hettie, spring, spring!«
    Aber dafür war es zu spät.
    Über ihm wurde ein gewaltiges Getöse laut. Stücke vom Dach und brennende Balken krachten neben ihm herunter und versperrten ihm den Fluchtweg. Irgendwo in dem wallenden Rauch explodierte etwas. Bartholomew stürzte schreiend und weinend zu Boden, und die Finsternis hüllte ihn ein.
    Er wusste nicht, wie lange er so dalag – ein Jahr oder einen Tag. Ihm war es völlig gleichgültig, ob er tot und die Welt untergegangen war. Von weither hallten Geräusche zu ihm herüber. Eiskaltes Wasser brannte ihm auf der Haut. Schwarz und silbern schimmerten die Uniformen von Feuerwehrleuten durch den Nebel, der sein Blickfeld einnahm. Dann drängten sich Menschen um ihn, und sie redeten alle gleichzeitig.
    »Ein Seltsamer«, sagten sie. »Halbtot. Sollen wir ihn liegen lassen?« Und irgendwo hörte er Mr.   Jelliby wütend aufschreien. »Was höre ich da? Tragt ihn in eine Kutsche, und zwar sofort! Und dann auf dem schnellsten Weg in die Harley Street. Selbst wenn ihr den Rest eures Lebens dafür braucht, ihr werdet ihn retten! Er hat euch gerettet. Er hat uns alle gerettet.«
    Geht weg,
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