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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition)
Autoren: Stefan Bachmann
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so lieb, und schenk mir ein Lächeln, ja?«
    »Arthur, du darfst einfach nicht so lange schlafen«, sagte Ophelia streng und ging ihm entgegen, um ihm die Krawatte zu binden. Mr.   Jelliby war ein großer, breitschultriger Mann, und da sie eher klein war, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen.
    »Ach, aber ich muss doch mit gutem Beispiel vorangehen. Denk doch nur an die Schlagzeilen: ›Krieg abgewendet! Tausende von Leben gerettet! Das englische Parlament hat seine Sitzung verschlafen.‹ Glaub mir, die Welt wäre ein weit besserer Ort.«
    Das klang nicht halb so geistreich, wie es sich in seinem Kopf angehört hatte, aber Ophelia lachte trotzdem, und Mr.   Jelliby, der sich ausgesprochen amüsant vorkam, stürzte hinaus ins Großstadtgetümmel.
    Für Londoner Verhältnisse war es ein schöner Tag. Was bedeutete, dass es ein bisschen weniger wahrscheinlich war, dass man erstickte oder an Lungenvergiftung starb. Der schwarze Rauchvorhang aus den Millionen von Schornsteinen war vergangene Nacht vom Regen fortgespült worden. Die Luft schmeckte noch immer nach Kohle, aber immerhin, zwischen den Wolken blitzte hin und wieder die Sonne hervor. Staatseigene Automaten knarrten auf rostigen Gelenken durch die Straßen, kehrten den Dreck vor sich her und ließen Öllachen zurück. Eine Gruppe von Laternenanzündern war damit beschäftigt, die kleinen Flammenfeen, die hinter Glas in den Straßenlaternen kauerten, mit Wespen und Libellen zu füttern. Bis zum Einbruch der Dunkelheit verbreiteten die mürrischen Geschöpfe jedoch nur mattes Licht.
    Mr.   Jelliby bog in die Chapel Street und winkte mit der Hand nach einer Droschke. Hoch über ihm erstreckte sich eine gewaltige Eisenbrücke; sie ächzte und stöhnte, während eine Dampflokomotive darüber hinwegrumpelte, und Funken regneten herab. An einem normalen Tag hätte Mr.   Jelliby genau diesen Zug genommen, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt und müßig auf die Stadt hinausgeschaut. Oder er hätte seinen Leibdiener Brahms angewiesen, ihn auf sein neumodisches Fahrrad zu hieven und ihn ordentlich anzuschieben, damit er übers Pflaster davonstrampeln konnte. Aber heute war kein normaler Tag. Heute hatte er nicht einmal gefrühstückt, sondern war völlig überstürzt aufgebrochen, was seine Laune nicht gerade hob.
    Die Kutsche, die vor ihm hielt, wurde von einem Gnom gelenkt. Er war alt, hatte spitze Zähne und graugrüne Haut wie ein glitschiger Fels. Außerdem trieb er seine Pferde an, als wären es ein Paar Riesenschnecken, und als Mr.   Jelliby mit seinem Spazierstock gegen das Kutschdach klopfte und mit lauter Stimme um etwas mehr Tempo bat, wurde er von einigen saftigen Flüchen auf seinen Sitz zurückgeworfen. Mr.   Jelliby runzelte die Stirn, und ihm fielen eine ganze Reihe guter Gründe ein, warum er sich das eigentlich nicht gefallen lassen musste, aber bis er an sein Ziel gelangte, machte er den Mund nicht mehr auf.
    Der große neue Glockenturm der Westminster Abbey schlug fünf nach halb, als er an der York Road ausstieg. Verflixt! Er kam zu spät. Ganze fünf Minuten zu spät. Er rannte die Treppe zur St.   Stephen’s Porch hinauf und stürzte an dem Pförtner vorbei in die riesige Haupthalle. Überall standen in kleinen Grüppchen Gentlemen beieinander, und ihre Stimmen hallten von den Dachbalken hoch oben wider. Es stank nach Kalk und frischer Farbe. Mancherorts schmiegten sich Baugerüste an die Wände, und auch die Fliesen waren noch nicht überall zu Ende verlegt. Der neue Palace of Westminster war erst vor weniger als drei Monaten für die Abgeordneten freigegeben worden. Der alte Palast war zu einem Häufchen Asche niedergebrannt, nachdem ein verärgerter Feuergeist sich im Keller in die Luft gesprengt hatte.
    Mr.   Jelliby eilte die Treppe hinauf und einen hallenden, von Lampen gesäumten Korridor entlang. Mit einer gewissen Befriedigung stellte er fest, dass er nicht als Einziger zu spät kam. John Wednesday Lickerish, Justizminister und der erste Sídhe, der in die britische Regierung berufen worden war, hastete ebenfalls den rasch tickenden Zeigern seines Chronometers hinterher. Er bog aus einer Richtung um die Ecke, Mr.   Jelliby aus einer anderen, und so rannten sie mit ziemlicher Wucht ineinander hinein.
    »Ach! Mr.   Lickerish! Bitte verzeihen Sie mir.« Mit einem Lachen half Jelliby dem Gentleman auf die Beine und klopfte ihm einige unsichtbare Staubpartikel vom Revers. »Ich fürchte, ich bin heute Morgen ein wenig
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