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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition)
Autoren: Stefan Bachmann
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weitläufiger Dachboden, ein wahres Labyrinth, das sich unter den morschen Balken hierhin und dorthin schlängelte. Als Bartholomew noch klein gewesen war, hatte es hier mehr kaputte Möbel und interessanten und aufregenden Unrat gegeben, als er sich hätte wünschen können. Alles Interessante und Aufregende war inzwischen abhandengekommen und während des bitterkalten Winters als Feuerholz verwendet oder bei den fahrenden Feenhändlern gegen wertlosen Plunder eingetauscht worden. Manchmal schlichen sich die Frauen hier herauf, um ihre Wäsche aufzuhängen, ohne dass sie gestohlen wurde, doch darüber hinaus blieb der Dachboden dem Staub und den Drosseln überlassen.
    Und Bartholomew. Es gab eine Stelle, da konnte er sich, wenn er ganz vorsichtig war und sich ganz dünn machte, durch einen Spalt zwischen einem Balken und dem rauhen Mauerwerk eines Schornsteins hindurchquetschen. Dahinter befand sich, direkt unter dem Dachgiebel, eine geheime Kammer, die vor Jahren zugemauert worden war. Wenn es dafür jemals einen Grund gegeben hatte, dann kannte Bartholomew ihn nicht. Auf jeden Fall war er froh darüber, dass es diese Kammer gab, denn sie war jetzt sein Reich.
    Er hatte sie mit allem möglichen Krimskrams ausstaffiert, den er irgendwo aufgetrieben hatte – einer Strohmatte, einigen trockenen Zweigen und Efeuranken und einer Reihe von zerbrochenen Flaschen, die er an einer Schnur aufgehängt hatte – der jämmerliche Abklatsch einer Julzeit-Girlande, von der er gelesen hatte. Am besten gefiel ihm an seiner Kammer jedoch das kleine runde Fenster, das, wie in einem Boot, auf die Krähengasse und ein Meer von Dächern hinausging. Er wurde nie müde, dort hinauszuschauen. Von hier oben im Verborgenen konnte er die ganze Welt beobachten.
    Bartholomew zwängte sich durch den Spalt und blieb, heftig nach Luft schnappend, auf dem Boden liegen. Unter den Schieferschindeln war es heiß und stickig. Draußen brannte die Sonne herab und ließ alles spröde und scharfkantig erscheinen, und nachdem er die neunundsiebzig ausgetretenen Stufen hinaufgerannt war, kam er sich unter dem spitzen Dachgiebel vor wie ein Brotlaib in einem Ofen.
    Sobald er wieder einigermaßen ruhig atmete, kroch er zum Fenster. Er konnte über die Krähengasse hinwegschauen und über die hohe Mauer – direkt in den Vorgarten des Hauses, in dem die Buddelbinsters wohnten. Die Dame war noch immer dort, ein leuchtend violetter Fleck zwischen den braunen Dächern und dem vertrockneten Unkraut. Die griesgrämige Frau hatte wieder die Tür geöffnet. Sie schien der Dame argwöhnisch zuzuhören, wobei sie die Spange an dem grauen Zopf, der ihr über die Schulter hing, in einem fort löste und wieder festmachte. Dann drückte ihr die pflaumenfarbene Dame etwas in die Hand. Einen kleinen Beutel? Er konnte es nicht genau erkennen. Die griesgrämige Frau duckte sich ins Haus zurück wie eine Ratte, die einen Fleischfetzen gefunden hat und fest entschlossen ist, ihn mit niemandem zu teilen.
    Kaum hatte sich die Tür geschlossen, wurde die Dame plötzlich sehr geschäftig. Sie kniete sich hin, wobei sich ihr Rock um sie herum aufbauschte, und zog etwas aus ihrem Hut. Das Sonnenlicht fing sich in einer kleinen Flasche, die sie in der Hand hielt. Sie biss das Siegel ab, entkorkte sie und träufelte den Inhalt in einem Kreis auf den Boden.
    Bartholomew beugte sich vor und spähte durch das dicke Fensterglas. Wahrscheinlich, so dachte er bei sich, war er der Einzige, der sie in diesem Moment sah. Andere Augen waren ihr gefolgt, seit sie die Gasse betreten hatte, das wusste er. Aber jetzt befand sich die Dame hinter einer hohen Mauer, die sie vor fremden Blicken schützte. Die pflaumenfarbene Frau hatte sich das Haus der Buddelbinsters mit Absicht ausgesucht. Sie wollte nicht gesehen werden!
    Als das Fläschchen leer war, hielt sie es hoch, zerdrückte es zwischen den Fingern und ließ die Scherben ins Gras rieseln. Dann erhob sie sich unvermittelt und wandte sich dem Haus zu, wobei sie so selbstsicher und elegant wirkte wie eh und je.
    Mehrere Minuten verstrichen. Schließlich öffnete sich die Tür wieder, ein wenig zögerlich dieses Mal. Ein Kind streckte den Kopf heraus. Es war der Mischlingsjunge, Bartholomews Freund. Genauso wie bei Hettie schien auch ihm das Feenblut so hell wie der Mond durch die weiße, weiße Haut hindurch. Auf seinem Kopf wuchs ein Dornengestrüpp. Seine Ohren waren lang und spitz. Jemand hatte ihm offenbar einen Schubs versetzt, denn er
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