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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition)
Autoren: Stefan Bachmann
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vornehme Damen und Herren gewesen waren, mit eigenen Palästen und eigenen Gemächern. Sie würden niemals verzeihen. Die Engländer mochten den »Heiteren Krieg« gewonnen haben, aber es gab noch andere Möglichkeiten zu kämpfen. Ein Wort konnte einen Aufstand auslösen, Tinte den Tod eines Menschen bedeuten, und die Sídhe waren mit all diesen Waffen mehr als vertraut. O ja, das waren sie!

ERSTES KAPITEL

    So etwas Hübsches…
    Bartholomew Kettle sah sie in dem Moment, als sie mit den Schatten in der Krähengasse verschmolz – eine vornehme Dame, die ganz in pflaumenfarbenen Samt gekleidet war und mit der Haltung einer Königin die schlammige Straße entlangstolzierte. Er fragte sich, ob sie diesen Ort jemals wieder verlassen würde. Auf der Karre des Leichenbestatters vielleicht oder in einem Sack, aber wahrscheinlich nicht aus eigener Kraft.
    In den Elendsvierteln der Feenwesen in Bath war man Fremden nicht besonders gewogen. Gerade mochte man noch eine breite Straße entlangschreiten, auf der geschäftiges Treiben herrschte und wo man Tramrädern und Kothaufen ausweichen und darauf achten musste, nicht von den Wölfen gefressen zu werden, die vor die Kutschen gespannt waren. Doch im nächsten Moment hatte man sich vielleicht schon hoffnungslos im Labyrinth der Nebenstraßen verirrt, über die sich hagere alte Häuser neigten und den Himmel verdeckten. Falls man das Pech hatte, jemandem zu begegnen, handelte es sich sehr wahrscheinlich um einen Dieb. Und so ein Dieb gehörte meist nicht zu der zierlichen Sorte wie die schmalfingrigen Schornsteinirrwische von London; vielmehr hatten sie Dreck unter den Fingernägeln und Blätter im Haar und würden, wenn sie es für lohnenswert erachteten, nicht zögern, einem die Kehle durchzuschneiden.
    Diese Dame sah äußerst lohnenswert aus, fand Bartholomew. Er wusste, dass manche Leute schon für weniger getötet hatten. Für weit weniger, wenn man sich so anschaute, was für ausgehungerte Leichen aus dem Rinnstein gezogen wurden.
    Er klappte sein Buch zu, drückte sich die Nase an dem schmutzigen Fenster platt und blickte ihr nach, wie sie die Gasse entlangschritt. Sie war hochgewachsen und hätte, herausgeputzt, wie sie war, in dieser Umgebung nicht fremdartiger wirken können; dabei schien sie den finsteren Durchgang ganz und gar auszufüllen. Die mitternachtsfarbenen Handschuhe reichten ihr bis über die Ellenbogen. Edelsteine funkelten an ihrem Hals. Auf dem Kopf trug sie einen kleinen Zylinder mit einer riesigen violetten Blume. Er saß ein wenig schief, sodass er ihre Augen verdeckte.
    »Hettie«, zischte Bartholomew, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Hettie, komm, schau mal!«
    Füße trippelten durch das dunkle Zimmer. Neben ihm tauchte ein kleines Mädchen auf. Sie war schrecklich dünn, und ihr Gesicht bestand nur aus kantigen Knochen und blasser Haut, die einen Stich ins Bläuliche hatte, weil sie nicht genug in die Sonne kam. Das Mädchen war genauso hässlich wie er. Ihre Augen waren groß und rund: schwarzes Wasser, das sich in den Vertiefungen ihres Schädels gesammelt hatte. Ihre Ohren liefen spitz zu. Bartholomew mochte zur Not noch als Menschenkind durchgehen, aber Hettie auf gar keinen Fall. Es war nicht zu übersehen, dass sie Feenblut in den Adern hatte. Denn wo Bartholomew wirres kastanienbraunes Haar aus der Kopfhaut spross, wuchsen Hettie wie bei einem jungen Baum glatte, kahle Äste.
    Sie schob sich einen widerspenstigen Zweig aus der Stirn und stieß ein leises Keuchen aus.
    »O Barthy«, hauchte sie und umfasste seine Hand. »So etwas Hübsches habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!« Er kniete sich neben sie, sodass sie beide gerade noch über den von Holzwürmern zerfressenen Fenstersims linsten.
    Hübsch war sie wirklich, die vornehme Dame, aber sie hatte etwas Merkwürdiges an sich. Etwas Düsteres und Unberechenbares. Sie trug weder Gepäck bei sich noch einen Mantel – nicht einmal einen Schirm, um sich gegen die spätsommerliche Sonne zu schützen. War sie aus der schattigen Stille eines Salons direkt in das Feenviertel von Bath hinausgetreten? Ihre Bewegungen waren steif und fahrig, als wäre sie nicht ganz Herrin ihrer Gliedmaßen.
    »Was meinst du, was will sie hier?«, fragte Bartholomew und begann, langsam auf seinem Daumennagel herumzukauen.
    Hettie runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Vielleicht ist sie eine Diebin. Mama hat gesagt, die ziehen sich fein an. Aber ist sie dafür nicht viel zu schön? Sieht sie
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