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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer
Autoren: Andrea Schwarz
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gutes Zeichen. Heimatland...
    Ich bin stehengeblieben und schaue zurück. Auf der Straße sehe ich plötzlich zwei Menschen mit Rucksack, in Regenponchos eingehüllt, die langsam, aber beharrlich die Straße heraufstapfen. Ich bin mir fast sicher, daß es der andere Deutsche und Tom sind, die erst nach mir aus dem Refugio aufgebrochen sind und warte auf sie. Als die beiden näherkommen, stelle ich enttäuscht fest, daß ich sie nicht kenne. Sie halten kurz an, erweisen sich als Iren, ein unverbindliches Hallo, ein kurzes Gespräch, dann ziehen sie weiter. Ich bleibe immer noch ratlos stehen -zurück oder weiter? Aber diese kurze Begegnung gibt mir ein bißchen Kraft, genug, um die nächsten hundert Meter anzugehen, zu wenig, um zu einer Entscheidung zu kommen - und als ich um eine Kurve biege, sehe ich die beiden unter einem Baum, der ein bißchen Schutz vor dem Regen bietet, rasten. Damit nehmen sie mir im Moment mal die grundsätzliche Entscheidung ab. Ich setze den Rucksack ab, hock mich dazu, sie bieten mir Schokolade an, wir kommen ins Gespräch.
    Ich schimpfe ein bißchen über das schlechte Wetter - aber der eine antwortet nur ganz lapidar: »Now, it isn’t too bad today, isn’t it?« - und in dem Moment kommen viele Erinnerungen an Irland in mir hoch, ich muß schmunzeln und frage mich, wie wohl ein Wetter beschaffen sein muß, daß ein Ire sagt: Ja, es ist wirklich schlecht! Ich erzähle von meinen Schwierigkeiten -aber sie können mir auch nicht raten. Schließlich ziehen die beiden weiter - und wieder allein, überlege ich nochmal neu. Durch die Begegnung mit den beiden Iren ist anscheinend etwas in mir in Bewegung gekommen, das es möglich macht, jetzt zu Entscheidungen zu kommen - und nicht einfach nur Meter für Meter in all meiner Kraftlosigkeit weiterzutappen. Nein, es hat keinen Sinn - in dem körperlichen Zustand werde ich die Pyrenäen nicht packen. Hier ist meine Grenze erreicht. Und ich will nicht den ganzen camino damit aufs Spiel setzen, daß ich jetzt was erzwinge, was im Moment nicht geht. Ich kann die Grenze akzeptieren - ich weiß schließlich, was dieser Situation alles vorausgegangen ist. Es tut weh, sich gleich schon am Beginn des Weges eingestehen zu müssen, daß es eine Nummer zu groß angelegt ist, was ich mir da vorgenommen habe. Aber ich muß mich der Realität stellen - und zurückgehen.
    Ich habe lange gebraucht für diese Entscheidung, ich mußte mich damit erst versöhnen. Aber dann war es klar - ich gehe zurück nach St.-Jean, schlafe eine Nacht gescheit - und probiere es im zweiten Anlauf.
    Ich nehme den Rucksack auf die Schultern - und da kommt mir plötzlich eine alte Lebensweisheit meines Vaters in den Sinn, der zu uns Kindern bei sonntäglichen Spaziergängen oft gesagt hat: Kommt, wir gucken noch da um die Kurve - und dann kehren wir um. Also gut, man kann mich ja durchaus überzeugen. Es sind ca. 80 Meter - und ich gehe sie lustlos, müde.
    Als ich um die Kehre biege, bietet sich mir ein unbeschreibliches Panorama: Bergketten, in den unterschiedlichsten Grüntönen, in den feinsten Abstufungen, Himmel und Weite und Wolken, eine Schafherde am Horizont, am Wegrand blühende Erika - und ein Asphaltweg, der sich ganz sanft den Bergrücken entlang schmiegt. Und wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen gehe ich weiter, gebe mich in diese Weite hinein, spüre den Wind, schaue und bin, habe den Weg unter den Füßen, verstumme...
    Ja, es wird still in mir, ich staune voll Ehrfurcht, bin berührt von der Schönheit, traumverloren geht sich Schritt für Schritt...
    Stundenlang zieht es mich durch diese Berge, immer neue Ausblicke, dort grasen Schafe, auf dem Bergkamm Pferde, im Graben das Skelett eines Fohlens, Opfer der Adler? Es ist unwirklich - ich fühl mich ausgesetzt, spür mich lebendig, verbunden und fremd zugleich. Die Weite macht mich weit, der Himmel hat keine Grenzen, es öffnet sich was in mir - und fast wie in Trance geht sich Kilometer für Kilometer.
    Ich habe lange für diese Strecke gebraucht - aber ich denk mir, die körperlichen Grenzen waren nur eine Seite davon. Die Seele hat etwas gefunden, mit dem sie erst fertig werden mußte - Weite, Einsamkeit, Unendlichkeit...
    Gott als Schöpfer dieser Schönheit war mir heute im Erleben sehr gegenwärtig. Da war viel Staunen, Dank und Lobpreis in mir. Schade - aber das fällt mir auch jetzt erst ein: Es hätte gut gepaßt, dort oben, mitten in den Pyrenäen, einen der Lobpreispsalmen zu beten.
    Der Abstieg nach
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