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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer
Autoren: Andrea Schwarz
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Herrn.
    Kann ich überhaupt noch schreien? Warte ich noch? Kann ich noch hoffen? Glaube ich ihm?
    Als ich in der kleinen Bibel die Schriftstellen für den Sonntagsgottesdienst nachlese, finde ich zwar noch keine Antwort, aber immerhin eine erste Zusage:
    Denn alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne (und Töchter) Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so daß ihr euch immer noch fürchten müßtet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen (und Töchtern) macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! So bezeugt der Geist selber unserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind. Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um auch mit ihm verherrlicht zu werden. (Röm 8,14-17)
    Und im Evangelium die Aussendung der Jünger und die Zusage: »Seid gewiß, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,16-20). Und ich bin auf dem Weg zum »Ende der Welt«, zum Finis terrae, wie der Ort genannt wird, der in der Verlängerung des caminos am Atlantik liegt. Welch eine Zusage für diesen Tag des Aufbruchs!
    Mitten in all meinem Chaos, meinem Versagen, meiner Zerbrochenheit darf ich vertrauen, daß Gott mitgeht, daß seine Zusage gilt, daß seine Zusage mir gilt. Mitten in all meinem Fragen fühle ich mich ein bißchen getröstet.
    Ich kann nicht auf alle Schreie der Menschen eine Antwort geben - und das ist schon wieder Teil meiner Gebrochenheit. Ich würde gerne helfen - und kann es oft doch nicht, weil ich an die Grenzen meiner Möglichkeiten, an Grenzen von Kraft und Zeit komme. Und oft genug leide ich unter meinen eigenen Grenzen. Aber genau diese Gebrochenheit, diese Grenzen, kann und darf ich Gott übergeben. Er ist so abgrundtief solidarisch mit unserer
    Gebrochenheit, daß er seinem Sohn diese Erfahrung nicht erspart. Er selbst muß sich brechen lassen, erweist seine abgrundtiefe Solidarität mit all denen, die im Dunkeln sind.
    Ich fühl mich noch unsicher in dieser für mich unbekannten Umgebung, habe mich ins Französische noch nicht wieder genug eingehört, bin auch ein bißchen müde von all den Anstrengungen und Aufregungen der letzten Tage und Stunden. So gehe ich zum Abendessen in eine kleine Pizzeria und bestelle dort »Spaghetti carbonara«. Des Fremden und Neuen ist mir grad genug, ich will jetzt nicht auch noch beim Essen Experimente machen. Aber es bleibt mir nicht erspart - die Nudeln kommen, gekrönt von einer halben Eierschale mit einem Eidotter darin. Anscheinend gibt man hier das Eidotter selbst über die Nudeln. Für einen kurzen Moment kommen mir alle Zeitungsmeldungen über Salmonellen in den Kopf - aber dann denk ich mir: Die Leute hier leben ja auch. Und ich werde nicht die erste sein, die Spaghetti auf diese Art und Weise serviert bekommt.
    So kippe ich das Eidotter auf die Nudeln - es schmeckt sogar.
     
     

Sonntag, 25.5.
     
     
    St.-Jean-Pied-de-Port, 0.20 Uhr
    Wie schrieb ich noch vor einigen Stunden: Schlimmer als im Liegewagen kann’s nicht werden...
    Das ist jetzt schon die zweite Nacht, in der ich nicht zum Schlafen komme. Der Raum ist zwar dreimal so groß wie das Liegewagenabteil, und wir sind auch nur zu fünft - aber bei denen sind zwei exzellente Schnarcher dabei. Jack, ein Kalifornien und ich haben es vorhin nach den ersten Einschlafversuchen aufgegeben - und haben eine halbe Stunde hier draußen in der kühlen Nacht gesessen und uns leise unterhalten. Aber eigentlich wollten wir ja auch schlafen, und so entschieden wir uns schließlich, doch wieder hinein zu gehen. Mit einem Faustschlag gegen das Bettgestell haben wir Tom ruhig gekriegt - und Jack scheint die Minuten der Ruhe zum Einschlafen genutzt zu haben. Ich war leider weniger schnell. Tom blieb zwar vorerst ruhig, dafür setzte jetzt Helmut lautstark ein. Es ist Ewigkeiten her, daß ich mit Menschen in einem Raum zusammen geschlafen habe - und ich habe gar nicht mehr gewußt, wie laut das sein kann. Für zehn Minuten höre ich fast ein bißchen fasziniert einem rhythmischen Schnarchduett von Tom und Helmut zu -daß es so was wirklich gibt? - der eine schnarcht-ruft, der andere schnarcht-antwortet. Von links unten kommt aus dem Dunkel das »uuuhhhh«, von rechts hinten, nach einer höflichen Sekunde des Innehaltens, das antwortende »aaahhh«. Im Moment hat Helmut das Schnarchen mal wieder allein übernommen. Die letzte Stunde habe ich wachgelegen, habe darüber gestaunt,
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