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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer
Autoren: Andrea Schwarz
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welche Töne ein Mensch von sich geben kann, habe überlegt, daß für solche Nächte im Refugio vielleicht doch ein Rosenkranz ganz praktisch wäre - und ob möglicherweise der Ohropax-Verbrauch entlang des caminos überdurchschnittlich hoch sein mag. Bei aller Müdigkeit trage ich es mit Fassung - als wir vorhin miteinander sprachen, waren es ganz nette Menschen, ich kann ihnen irgendwie nicht böse sein.
    So sitze ich jetzt draußen auf einer Bank vor dem Refugio und schreibe im Licht der Straßenlampe Tagebuch, lautlos umsegelt von Fledermäusen. Und da ich das Schnarchen bis hier draußen hin höre, bekomme ich vielleicht die nächste Pause so rechtzeitig mit, daß ich es in mein Bett, den Schlafsack und vielleicht auch in den Schlaf schaffe.
    Mich berührt noch tief der Gottesdienst am heutigen Abend. Als ich um fünf vor neun in die Kirche kam, saßen gerade zehn Frauen da, und ich dachte noch: Naja...
    Mit dem Glockenschlag kam noch eine Gruppe Männer in die Kirche - und bis zum Evangelium waren es etwa 60 Menschen. Als der Gottesdienst begann, horchte ich plötzlich auf: Das war doch kein Französisch?! Es dauerte ein wenig, bis mir klar wurde, welches Geschenk ich hier bekam: Ein Gottesdienst in baskischer Sprache! Und die Lieder, ebenfalls baskisch, mit alten Melodien, die mich eher an irische Folk-Songs erinnerten denn an »Ein Haus voll Glorie schauet...« - und die Gemeinde sang mit einer Inbrunst diese Lieder mehrstimmig, als wären wir bei einem Festgottesdienst mit vollzählig anwesendem Kirchenchor. Und es wurden viele Lieder gesungen... es war für mich eine sehr dichte und intensive Stunde in dieser Kirche in St.-Jean, das ging unter die Haut, hat mich sehr berührt. Und das als Geschenk für den Aufbruch!
     
    Roncesvalles, 22.00 Uhr
    Eine Stunde Schlaf war mir gegönnt. Um fünf Uhr morgens hat es mir gereicht, dann bin ich aufgestanden, habe draußen vor dem Jakobustor auf einer Bank die Laudes gebetet, habe mit Helmut noch einige Worte gewechselt - und bin losgegangen. Dort hielt mich nichts mehr.
    Meine Güte, war dieser Tag schön! Diese herbe Landschaft der Pyrenäen, das Unterwegs-Sein, die Einsamkeit, die Weite, die Tiere - es war nur beeindruckend. Es ist seltsam, ich bin erst zwei Tage von zu Hause weg, aber was ich bisher schon alles erlebt habe, ist so dicht und viel, daß ich es wirklich aufschreiben muß, um es nicht zu vergessen. Und doch fehlen mir die Worte, um das zu beschreiben, was ich da heute gespürt und gefühlt habe. So muß ich Zuflucht nehmen zu dem, was im Moment benennbar ist - und weiß zugleich darum, wie unzureichend das für diesen Tag ist...
    Insgesamt drei Stunden Schlaf in zwei Nächten, das Chaos der letzten Tage daheim - das alles ist nicht grad die beste Voraussetzung für eine Pyrenäenüberquerung. Ich habe lange überlegt - aber dann habe ich mich doch für die Napoleon-Route entschlosssen, die über die Berge führt, und gegen die Valcarlos-Strecke, die das Tal hinaufgeht. Die Führer haben sie als landschaftlich schöner und interessanter beschrieben - und das war sie auch, schön und interessant! Und doch - ich hab nicht gewußt, auf was ich mich da gleich am ersten Tag einlasse. 25 km, 1.300 m Aufstieg und 600 m Abstieg lesen sich im Führer anders, als es mir im konkreten Wandern damit »ergeht«.
    Nach sechs Kilometern mit teilweise steilem Anstieg, wenn auch auf Asphaltstraßen, spüre ich meine Grenzen. Ich habe keine Kraft mehr, fühle mich unsicher, das Wetter wird schlechter, zum Wind kommt Regen dazu - wie mag das wohl erst in der Einsamkeit auf 1400 Meter Höhe aussehen? Meine blühende und wuchernde Phantasie, die ich für manches Buch, manche Geschichte, herzlich willkommen heiße, geht an diesem Morgen in den Pyrenäen mal wieder mit mir durch. Ich male mir aus, was mich noch alles erwarten mag auf den restlichen 19 km, und mir fällt ausgesprochen viel ein! Meine Müdigkeit meldet sich zu Wort, meine Unsicherheit, irgendwann auch mal mein Verantwortungsbewußtsein: Wäre es nicht sinnvoller, die sechs Kilometer nach St.-Jean zurückzulaufen, sich eine Nacht im Hotel einzuquartieren, auszuschlafen - und morgen mit frischen Kräften auf der anderen Route Roncesvalles anzugehen? In diesem Moment verwünsche ich das Allein-Sein, muß schon wieder ganz allein ich entscheiden, was sinnvoll ist? Es nieselt stärker. Ich klappe die Kapuze hoch, vorhin schon kam mir das Jungvieh entgegen, das aus den Bergen in die geschützteren Zonen zog - kein
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