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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer
Autoren: Andrea Schwarz
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Roncesvalles war fürchterlich. Ich bin müde, der Weg ist naß und glitschig. 600 m Abstieg auf 3 km - und die Abtei kommt und kommt nicht in Sicht. Ich mag nicht mehr, will nur noch ankommen. Und dann, auf dem glitschigen Lehmboden, zieht mir der Schlamm sauber den Boden unter den Füssen weg, und bevor ich richtig denken kann, liege ich auf dem Rücken mitten im Dreck. Mühsam schnalle ich den Rucksack los - und rauche mitten in dem all dem Chaos und dem Dreck erst einmal eine Zigarette. Ich bin an Grenzen - und bin heute wahrscheinlich darüber hinaus gegangen. Ich inspiziere mich und den Rucksack - es scheint nichts Ernstliches passiert zu sein. Meine Knochen lassen sich alle schmerzfrei bewegen, die Hose ist eingesaut, der Rucksack zeigt ein paar Spuren des unerwarteten Landemanövers. Charlie, der kleine Pinguin, der außen am Rucksack hängt, hat den Sturz auf die Schnauze gut überstanden.
    Um 17.45 Uhr bin ich nach Roncesvalles hineingestolpert, anders kann man es wohl nicht beschreiben, und weiß, daß am Sonntag um 18.00 Uhr die Pilgermesse ist. Und damit gerate ich ein bißchen in Streß: Stempel holen, eine Unterkunft besorgen - und das würde diese Nacht nicht das Refügio sein, dessen war ich mir ziemlich sicher - zumindest die verdreckten Wanderschuhe gegen die Turnschuhe tauschen - und irgendwas trinken. Für eine Viertelstunde finde ich das viel an Programm. Und dabei habe ich noch nicht einmal die Sprachschwierigkei-ten einkalkuliert. Irgendwann habe ich heute die Grenze von Frankreich nach Spanien überquert, ich hatte den Grenzstein wohl gesehen - aber heute abend plötzlich mit Spanisch konfrontiert zu sein, das ist nochmal eine ganz andere Sache. In meiner Müdigkeit macht mich das Nicht-verstehen und Nicht-verstanden-werden aggressiv.
    Auf dem Hof des Klosters begegne ich einem der Iren. Ich habe den Eindruck, daß er sich freut, daß ich da bin. Er lacht mich an, fragt: »You got it?« Ich nicke bestätigend - und dann sagt er: »I was sure - fine! You will come to church?« Ich nicke wiederum - im Moment fehlen mir anscheinend die Worte -aber es ist grad gut so.
    Ungeduscht, noch in den dreckigen Klamotten, komme ich mit einer Minute Verspätung in den Gottesdienst. Zwei Reihen vor mir entdecke ich die beiden Iren, es tut mir gut, sie zu sehen. Nachdem ich ein bißchen zur Ruhe gekommen bin, schaue ich mich um, ob ich noch andere Pilger entdecke. Aber in der sonntäglich-festlich gekleideten Schar fällt mir niemand auf. Einen Moment lang komme ich mir mit der Gore-Tex-Jacke und den dreckigen Wanderhosen deplaziert vor - aber dann denk ich: Schließlich ist das eine Pilgermesse - Pilger dürfen so aussehen.
    Es ist noch einmal ein Sonntagsgottesdienst, diesmal eben auf spanisch, ich verstehe so gut wie überhaupt nichts, aber es macht nichts. Ich bin nur froh, daß ich angekommen bin.
    Die Inszenierung ist gut gemacht: Ein Mann vorne neben dem Altar gibt die Einsätze für den Gemeindegesang, zum Salve Regina wird in der Kirche das Licht ausgeschaltet, nur die Marienfigur wird angestrahlt, es gibt einen Pilgersegen, bei dem die Pilger mit ihren Herkunftsländern genannt werden und vor dem Altar stehen. Das ist nochmal ein dichter Moment für mich: Nach diesem Tag mit all seinen Grenzen, mit all dem Schönen, nach der ersten Etappe auf dem Weg nach Santiago, noch einmal für den Weg gesegnet zu werden. Mit mir stehen zehn, zwölf andere Pilger vor dem Altar, es sind also doch einige, die unterwegs sind.
    Aber verglichen mit dem baskischen Gottesdienst in St.-Jean gestern wirkt das heute abend hier doch etwas blaß.
    Anschließend komme ich mit den beiden Iren kurz ins Gespräch. Und da sie nachher auch zum »Pilgermenü« in das Hotel kommen, in dem ich übernachte, verabreden wir uns kurzerhand zum Abendessen. In der Bar trinke ich ein Bier, dann gehe ich duschen. Und daß ich schon am ersten Abend die Hose würde waschen müssen, das hätte ich vorher nun auch nicht gedacht.
    Zum »Pilgermenü« finden sich acht Pilger ein - mit den beiden Iren und einem Franzosen sitze ich an dem einen Tisch, Helmut, den ich jetzt auch wiedersehe, ein belgisches Ehepaar und ein Italiener am anderen. Mit den beiden Iren unterhalte ich mich bestens, wir sind auf der gleichen Wellenlänge. Neville macht Jugendarbeit in der Diözese Dublin, Gerard hat seinen Computerjob an den Nagel gehängt, um den camino zu machen. Als Neville mich fragt, warum ich den Weg eigentlich gehe, kommen wir beide in ein intensives
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