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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer
Autoren: Andrea Schwarz
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»Seitenstraßen« hatten das Kälbchen nicht zur Umkehr bewegen können. Jetzt muht es kläglich - aber was hätte ich tun sollen?
    Der Weg lehrt mich vieles - meinen Rhythmus nicht gefunden haben, nicht finden können, sowohl im Tagesablauf wie beim Laufen selbst, das kostet Kraft, zusätzliche Kraft. Manchmal tut es gut, sich einfach in einen Rhythmus hineinzubegeben, einfach gehen zu können, ohne groß nachdenken zu müssen. Das kenne ich von meinem Alltag her.
    Und ich darf nur ein überschaubares Wegstück im Blick haben. Wenn ich auf die gesamten 780 km von St.-Jean nach Santiago schaue, dann finde ich diese Entfernung so ungeheuerlich, daß es mich lähmt - und ich vor lauter Unerreichbarkeit überhaupt keinen Schritt mehr mache. Die 20, 25 km bis zum nächsten Refugio - das ist überschaubar, das ist machbar. Da trau ich mich, da kann ich losgehen. Seltsam - das ist ja eigentlich keine neue Erkenntnis, die hat ja Beppo, der Straßenkehrer, in Michael Endes schönem Buch »Momo« schon gehabt. Aber hier in diesen Tagen wird es mir nochmal neu bewußt. Trotzdem - der Weg braucht das Ziel. Der Wanderer ohne Ziel wird zum Vagabunden, zum Abenteurer. Die einzelnen überschaubaren Wegetappen sind auf Santiago ausgerichtet. Der Weg an sich ist nicht das Ziel, er ist relativ, nicht absolut. Er führt zum Ziel, deswegen ist er wichtig. Ohne Ziel würde der Weg in die Beliebigkeit geraten, dann wäre es egal, ob ich nach Süden, Osten oder Westen gehe - und dann wäre es egal, in welcher Haltung ich den Weg gehe. Erst das Ziel richtet mich aus. Dem Spruch, »Der Weg ist das Ziel«, mißtraue ich zunehmend. Ich kann ihm insofern beistimmen, wenn es darum geht, den Weg wichtig zu nehmen. Ich kann auch vor lauter Fixierung auf das Ziel den Weg und was er für mich bereit hält, gering achten. Aber der Weg braucht das Ziel - das ist hier in Nordspanien nicht anders als in meinem Alltag. Wer den Weg achtet, wird schon im Gehen etwas vom Ziel erleben können. Aber das Gehen an sich ist kein Wert, sondern bekommt seinen Wert nur dadurch, daß ich auf ein Ziel hin gehe.
    Spirituell im eigentlichen Sinn war heute nicht viel - oder vielleicht doch?
     
     

Dienstag 27.5.
     
     
    Trinidad deArre, 16.30 Uhr
    Ja, es ist leider ziemlich eindeutig - das linke Knie macht nicht mehr mit. Auf ebener Straße geht es grad noch -, aber alle Auf- und Abstiege tun ziemlich weh. Ich furchte, mir bleibt nichts anderes übrig, als morgen bis Pamplona zu gehen, mich dort in einem Hotel einzuquartieren und einen Arzt aufzusuchen. Es ist ärgerlich, aber nicht zu ändern. Als ich hier in Trinidad ankam, traf ich eine Australierin mit ähnlichem Schicksal - auch sie hat seit zwei Jahren den Weg geplant, hat sich sieben Wochen Zeit dafür »herausgeschlagen« - und wurde vom Arzt hier wegen eines herausgebrochenen Fußnagels für fünf Tage »ruhiggestellt«.
    Ansonsten, ohne das Knie, wäre die Etappe heute ganz schön gewesen. Ich realisiere allmählich, daß mit Gepäck und je nach Wegbeschaffenheit 3 bis 3,5 km in der Stunde schon viel sein können. Der erste Teil war häßlich - vorbei an der großen Magnesium-Fabrik, die das ganze Tal verschandelt und deren Abgasfahnen mich noch einige Kilometer begleiteten. Aber es gab auch schöne Waldpfade, wieder viel dreckige Stellen (ich bin grad nur froh, daß ich gestern nicht die Schuhe geputzt habe) und auch die eine oder andere gefährliche Stelle, glitschig abwärts. Ich habe mich an Zweigen und Ästen durchgehangelt -wenn mir jemand zugesehen hätte, hätte er sicher entweder schallend gelacht oder vor Mitleid geweint. Meine Arme sind gut verschrammt. Und ich möchte nicht wissen, wie es mir bei schlechtem Wetter auf diesem Abschnitt ergangen wäre.
    Ich spüre, wie es mich auch psychisch Kraft kostet. Sich alleine auf den Weg zu machen, sich bei allen Schwierigkeiten immer wieder selbst motivieren zu müssen, die Sprachproble-me, jeden Tag an einem anderen Ort - ein bißchen verloren fühle ich mich manchmal schon.
     
    Trinidad deArre, 21.00 Uhr
    Ich geb’s zu - die Sache mit meinem Knie macht mich doch ein bißchen traurig, dazu kommt die Fremde, die Heimatlosigkeit...
    Und irgendwie habe ich plötzlich keine Lust mehr, mit den anderen wie vereinbart essen zu gehen. Wenn sie untereinander englisch sprechen, bekomme ich eh nur ein Drittel mit - und ich habe eigentlich auch keine Lust, mich mühsam durch eine spanische Speisekarte zu lesen, um dann irgendwas zu bestellen, was ich doch nicht
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