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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schwarz
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ist. Ich habe jedenfalls weder Lust, eine Woche in Pamplona zu verbringen, noch dazu, Pamplona verlassen zu haben, ohne mir den Stempel geholt zu haben und die Kathedrale gesehen zu haben. So interpretiere ich erstmal die Handbewegung des Arztes von »nicht laufen« in »nicht wandern« um - und humple los, auf der Suche nach einer Bar. Jetzt brauche ich erstmal einen Kaffee.
    Im Erzbischöflichen Palais gibt es den Stempel für den Pilgerausweis, ich werfe einen Blick von den Befestigungsanlagen auf das umliegende Land, und muß doch noch einigemale die eine oder andere Träne aus den Augen wischen.
    Zur Kathedrale muß ich zweimal - in Spanien halten auch die Kathedralen Siesta, von 13.30 Uhr bis 16.00 Uhr ist geschlossen - aber es ist eine wirklich beeindruckend schöne Kirche! Als ich ins Refektorium komme, nimmt es mir fast den Atem, so fasziniert mich dieser Raum. Ich lasse den Kunstführer beiseite, mich interessieren in diesem Moment keine Einzelheiten, ich will spüren. Und ich spüre Licht und Raum und Weite, ein »Dem-Himmel-Entgegenstreben«, Klarheit und Struktur und Farben im dämmrigen Licht. Ich glaube, es war wohl in diesem Moment, daß in mir die Entscheidung fiel -nein, ich breche nicht ab, ich fahre nicht nach Hause, egal, wie es mit dem Knie weitergeht, notfalls fahr ich mit dem Bus nach Santiago - aber dafür gibt es hier in Nordspanien viel zu viel Schönes zu sehen.
    Ich humpele nochmal bei der Tourist Information vorbei -und erkundige mich vorsichtshalber schon mal nach einer Busverbindung nach Puente la Reina - und dann gönne ich mir als kleines Trostpflaster einen großen Erdbeerbecher mit Sahne.
     
    Pamplona, 20.00 Uhr
    Die Tränen sitzen zwar noch locker - aber ich fange immerhin an, mich mit meinem Schicksal zu versöhnen. Ich sitz-liege gemütlich auf meinem Hotelbett hier in Pamplona, draußen auf der Straße tobt das Leben - aber es ist okay so.
    Ja, es tut weh, meinen Traum, diese Idee, auf die hin ich so lange gelebt habe, loszulassen - da zerbricht etwas. Das tut weh, verdammt weh - und ich weine auch jetzt, wenn ich das schreibe. Wie tief es bei mir geht, habe ich vorhin gemerkt, als ich mit den Eltern telefonierte und es dem Schweizer Mitpilger erzählte. Paul konnte ich schon gar nicht anrufen, dem konnte ich es nur schreiben.
    Zugleich aber: Bedauern tut mir überhaupt nicht gut. Das zieht mich nur noch weiter hinein. Und wenn auch meine Tränen und mein Klagen im Moment durchaus ihren Platz und ihre Zeit haben dürfen, so mag ich doch nicht ins Jammern kommen.
    Viel interessanter finde ich im Moment die Frage: Wozu das Ganze? Welchen Sinn macht das alles, was ich hier grad schmerzhaft am eigenen Leib erlebe?
    Ich ahne ein bißchen was. Der Schweizer hat heute abend erzählt, daß er am 24.6. wieder in der Schweiz sein muß und daß er deshalb die Tagesetappen verdoppeln will. Und das sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken. Er geht 40 km am Tag - und als ich das höre, fühle ich mich mangelhaft und ungenügend, weil ich weiß, das pack ich nicht. Und dann frage ich mich plötzlich, ob das überhaupt erstrebenswert ist, den camino mit 40-km-Tagesetappen »zu machen«. Was mag derjenige bei dem Tempo von all dem sehen, was am Rande des Weges verborgen liegt? Und wieso messe ich mich dann eigentlich an etwas, das überhaupt nicht erstrebenswert ist? Ist das nicht auch eine Wiederspiegelung unserer gesellschaftlichen Situation: Das, was als Leistung hingestellt wird, wird ungefragt als Maßstab übernommen, die Stärke, die Kraft gilt - und wer das nicht erreicht, fühlt sich ungenügend.
    Das Buch, das Angelo mir mitgegeben hat, wird mir plötzlich ganz neu wichtig: Heile, was gebrochen ist. Das beinhaltet für mich einen Auftrag, auf den ich mich aufgrund meiner Geschichte und meiner Erfahrungen gut einlassen kann.
    Aber wie kann ich mir denn anmaßen, Gebrochenheit zu heilen, wenn ich nicht weiß, nicht erlebt habe, was Gebrochenheit heißt?
     
     
    Puente la Reina, 10.30 Uhr
    Das ist eine ausgesprochen blöde Art zu pilgern...
    Als der Bus aus Pamplona hinausfuhr, habe ich die gelben Pfeile gesehen, die den Weg markieren - und- und da stiegen schon wieder die Tränen hoch. Und die Etappe nach Puente wäre sicher sehr schön gewesen - Pamplona allmählich hinter sich lassend, über den Bergkamm mit den vielen Windrädern - die ich ja grundsätzlich ökologisch für sinnvoll halte, an der Stelle aber trotzdem als eine andere Form der Umweltverschmutzung empfinde - und dann

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