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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos
Autoren: Suzanne Frank
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diesem Sommer würden Sonne und Mond im
    Einklang stehen. In diesem Sommer würde der neue Thronerbe gezeugt werden. Dieser Sommer bezeichnete das Ende von Zelos’ Herrschaft und den Beginn von Phoebus’ neunzehn Sommern auf dem Thron. Das jährliche Sonnwendfest würde vierzehn Tage dauern, nicht sieben wie sonst.
    Was redest du da? Wo bin ich? Wo hast du diese Namen her? flehte die Stimme mit spürbarer Angst.
    Sibylla ignorierte sie. Kela-Ileana hatte dieselben neunzehn Sommer als Zelos’ Gemahlin und als Verkörperung der Großen Göttin geherrscht. In diesem Sommer würden die Nymphen Aztlans ihre Stellung als Himmelskönigin anfechten. Bei einer Reihe von Wettläufen und Prüfungen im Labyrinth würden die Königin und ausgewählte Läuferinnen ihre Stärke und Ausdauer messen. Falls Kela-Ileana die Kämpfe gewann, würde sie Phoebus heiraten. Sollte sie innerhalb von dreißig Tagen schwanger werden, würde das ihre Position als Große Göttin und Phoebus’ Gemahlin untermauern und ihr weitere neunzehn Sommer auf dem Thron sichern. Falls sich herausstellte, dass sie kein Kind von Phoebus bekommen konnte, würde ihr Amt der Zweitplatzierten zufallen.
    Der Zweitplatzierten zufallen? Heißt das, sie selbst wird in die Wüste geschickt? Die Stimme schwankte zwischen Angst und Häme. Wer will schon zweitplatzierte Gemahlin sein? Mein Gott! Wo bin ich hier gelandet?
    Schweig! zischte Sibylla. Als Mitglied der olympischen Sippe würde sie um die Stellung der Großen Göttin und der Gemahlin kämpfen. Zwar gebot die Überlieferung, dass Hreesos goldenes Haar haben musste, doch seine Gemahlin brauchte lediglich der Sippe der Olympier anzugehören, eine religiöse Ausbildung zu haben und fruchtbar zu sein. Die Fruchtbarkeit des Landes stand in direkter Beziehung zur Gebärfreudigkeit der Großen Göttin. Die Königin musste innerhalb von dreißig Nächten nach der heiligen Hochzeit ein Kind empfangen. Sibylla seufzte; es war noch zu früh im Jahr, sich darüber den
    Kopf zu zerbrechen; das Rennen würde erst in einigen Monden stattfinden.
    Das Rennen? Monde? Ich habe da kein gutes Gefühl.
    Den Rücken durchgestreckt, um die trägen Muskeln zu strek-ken und zu dehnen, gab sich Sibylla alle Mühe, die Friedseligkeit Kaphtors zu genießen und die eigenartige Stimme zu überhören, die in einer ihr nur halb verständlichen Sprache zu ihr redete. Auf Kallistae würde jetzt der Wind um den Palast peitschen, und die Sonne würde Ileanas Gemach, das Megaron, erst lange nach dem Zenit erreichen. Kalt, regnerisch und laut war es auf der Insel, über die der Winterwind kreischte.
    Sibylla bedauerte die Seesoldaten, die aztlantische Marine. Der Winter, die Zeit der Schlange, war schon zu Lande unwirtlich. Wie schrecklich musste es da auf einem Schiff sein? Die Seefahrer segelten von einem Hafen zum nächsten, überprüften die Außenposten des Imperiums und tauschten Nahrung gegen Steine - wobei sie nach ganz bestimmten Steinen suchten. Sibylla zuckte mit den Achseln. Sie konnte sich ihr Mitleid sparen; jede Sippe hatte ihre eigenen Verpflichtungen.
    Instinktiv berührte sie das um ihren Hals hängende Siegel ihrer Sippe.
    Nette Kette, sagte die Stimme.
    Das goldene Siegel zeigte eine Schlange, die ihren Schwanz verschluckt, um Sibyllas Namenstag zu kennzeichnen, und hatte als Zeichen ihrer Sippe Stierhörner eingraviert. Seit Sibylla erwachsen geworden war, hing es um ihren Hals. Jedes Sippenoberhaupt trug ein ähnliches goldenes Siegel. Abgelegt wurden sie ausschließlich während der Ratssitzungen, wenn die Oberhäupter, da sie für den einfachen Mann und die einfache Frau sprachen, ohne Schmuck und Rangzeichen beieinander saßen. Der Rat trat alle neun Jahre sowie im neunzehnten Jahr zusammen, immer während der Zeit des Stieres.
    Die Zeit des Stieres? Heißt das im Sommer? Bitte sagt mir doch, wo ich bin ... Die Stimme verstummte verzagt.
    »Hilf mir, Kela«, betete Sibylla lautlos. Gewiss hörte sie Skia miteinander sprechen.
    So wie Kela die Göttin der Frauen war, so wurde Apis, der Stier und Erdrüttler, nur von den Männern verehrt. Seine Priester besaßen Pyramiden auf der Insel Aztlan und auf den vier weiteren, über das Imperium verstreuten »Nüstern des Stieres«. Die hoch aufragenden Nüstern schleuderten Apis’ heißen, bisweilen fauligen Atem in die Luft. Die Priesterschaft kam ihren religiösen Aufgaben pflichtbewusst nach, denn war der Groll des Stieres einmal geweckt, verwandelte er sich in einen
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