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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos
Autoren: Suzanne Frank
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übertönte mit seinen Schreien für einen Moment das Tosen der Flammen.
    »Herrin?« Eine der verkohlten Leichen rührte sich. Sibylla blieb wie angewurzelt stehen. »Herrin, ist Kela noch in dir?«
    »Flieht!«, rief sie mit einer kräftigeren, tieferen Stimme als sonst. »Die Tage des Friedens und der Freude in diesem Tal sind gezählt! Hütet euch vor der Zeit des Löwen! Wenn seine Zeit gekommen ist, wird alles sterben, die Erde selbst wird seinen Zorn zu spüren bekommen!« Sie schaute hinaus aufs Meer, wo sie eine Wasserwand aufs Ufer krachen und ganze Hentis von Land wegreißen sah. »Tage der Dunkelheit, Nächte des Feuers! Die Erde wird euch ausspeien, das Meer wird euch verschlingen! Schützt euch und alle, die ihr liebt. Ihr müsst fliehen, ihr müsst fliehen!«
    Schlotternd und weinend brach Sibylla zusammen.
    Die anderen scharten sich um sie, nun nicht mehr als Leichen, sondern als zutiefst verängstigte Frauen. Ehrfürchtig trugen sie die Seherin in die Höhle und auf ihre schlichte Liege. Sibylla spürte eine bösartige Regung im Schatten. Dort hauste ein Skia , ein zorniger Geist ohne Körper. Sibylla weinte mit geschlossenen Augen. Sie wollte die Frauen bitten zu bleiben, sie nicht mit dem Skia allein zu lassen, doch ihre Lippen waren vor Erschöpfung versiegelt.
    »Kela ist immer noch bei ihr«, hörte sie eine Frau flüstern. »Ihre Augen sind immer noch grün.«
    Grün? Sibylla wusste, dass die Auskunft, ihre Augen hätten die falsche Farbe, eigentlich beängstigend war, doch so leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. Meine Augen sind blau, protestierte sie. Nicht mehr, sagte eine fremde Stimme in ihrem Inneren.
    Flinke Schritte eilten vom Berg weg in Richtung Knossos. Sie wusste, dass andere Kela-Tenata eintreffen und sie in die Stille des Daedaledions entführen würden. Nein! Sie durfte noch nicht schweigen, sie musste noch von den Bergen sprechen, die Blut und Mörtel husteten, von den Himmeln, an denen kein Stern zu sehen war, von den Sonnenaufgängen voll geronnenem Blut, doch sie war zu müde, zu erschöpft. Eure Tage sind gezählt, wollte Sibylla den Dorfbewohnern sagen. Bitte, bitte, ihr müsst fliehen. Der Löwe kommt, er wird wüten. Ihr könnt zurückkehren, doch erst müsst ihr fort. Flieht noch vor dem Löwen.
    Flieht!
    Sie erwachte in der Dunkelheit, mit klopfendem Herzen, als wäre sie bis nach Knossos gerannt. Sibylla stolperte zum Höhleneingang. Ausgelaugt wie fast jedes Mal nach einer Phase des Weissagens, nahm sie von einigen Frauen aus dem Dorf
    Wein und Dörrobst entgegen. Man verehrte sie als Erscheinung der Großen Göttin. Darum verbrachte Sibylla die Zeit der Schlange, zu der sie nicht so viele Verpflichtungen als Sippenoberhaupt hatte, meist in dieser abgelegenen Höhle, versorgt von den Frauen des Dorfes. Hier ließ sie ihre Weisheit sprechen und handelte als Stimme der Kela.
    Die Große Göttin gab und nahm alles Leben. Mit einer Hand erschuf sie, mit der anderen zerstörte sie. Sie war eine pentadi-sche Gottheit, dargestellt als Jungfrau, Braut, Matrone, Frau in mittleren Jahren und als altes Weib. Sie war die Ahne des Stiergottes Apis, sie war seine Verführerin, seine Braut, seine Gemahlin und zu guter Letzt seine Schlächterin. Sie war der Mond, er war die Sonne; sie war die ungeraden Zahlen, er war die geraden; sie war Schlange, Schwalbe und Axt, er war Löwe, Stier und Stiefel. Die Leben der Götter verliefen übereinstimmend mit dem Leben des Landes; bald würde das Land von neuem erwachen, und Sibylla würde gemeinsam mit den anderen Priesterinnen Kela willkommen heißen.
    Schon bald würde Sibylla nach Kallistae und in den Palast zurückkehren. Die Jahreszeiten des Keimens und Erntens würden über das Aztlantische Imperium kommen, und sie würde erneut ihre Position und ihren Rang einnehmen. Der Trubel auf der Insel Aztlan würde die Erinnerung an diese kühlen, stillen Felder, an die schneebedeckten Berge in der Ferne fast vollständig auslöschen. Dies war der neunzehnte Sommer, der Sommer der großen Veränderungen im Imperium.
    Das Aztlantische Imperium? wiederholte die Stimme in ihrem Inneren. Wo bin ich hier? Ist das ein mexikanischer Ferienclub? Bitte, bitte, lass mich keine Aztekin sein.
    Sibylla schauderte, als sie die Stimme hörte, deshalb richtete sie ihre Gedanken mit aller Kraft auf den Sommer. Ihr Cousin Phoebus würde Hreesos, Goldener Stier, werden, während sein Vater Zelos athanati, also unsterblich, würde. Phoebus war neunzehn; in
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