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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos
Autoren: Suzanne Frank
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inmitten dieser trostlosen, drückenden Einsamkeit Trost. Ein mit Händen zu greifendes Gefühl von Liebe, Anerkennung und Gewissheit umfloss mich, zog mich hinauf, umbettete mich. Es verlieh mir Leichtigkeit. Eine Zeit lang - denn die Zeit war bedeutungslos - ruhte ich.
    Der mit einer Zeitreise einhergehende physische Schmerz traf mich mit einem Schlag. Ich wurde aus der kühlen Ruhe ins Feuer geschleudert. Blitzartig ging mir auf, wie Gold sich fühlen musste. Erhitzt, abgekühlt, geschmiedet, geformt ... zur Perfektion gebracht.
    Um mich herum wuchs die Spannung, sie strahlte von mir aus und durch mich hindurch. In qualvoller Verlorenheit wurde ich eingestampft und wieder aufgeblasen. Mein geistiges Selbst ging in Deckung, spannte die Muskeln an, hielt sich zum Abrollen bereit.
    Auf einmal erschien ein Gesicht vor mir, eine Frau mit blinden blauen Augen und schwarzen Locken, eine Frau von atemberaubender Schönheit. Ein Körper ohne Anschluss, erkannte ich. Es war niemand zu Hause. Noch bevor ich zu einer Entscheidung gelangt war, schwebte ich durch ihre weiten, blicklosen Augen. Ich begann zu schreien, und als ihr Fleisch zu meinem wurde, bekam meine Angst eine Stimme. Ihre Haut stülpte sich über mich, dehnte sich auf meine Größe, passte sich meinem Blut, meiner DNA an. Wie ein Neopren-Anzug umschloss der neue Körper meinen Geist und kleidete ihn ein. Hundert Millionen Nadeln durchbohrten mich, als die fleischliche Hülle enger wurde, sich über mir zusammenzog, bis meine Atome sich neu positionierten und meine Zellen mit der leeren Hülle verschmolzen.
    Die Qualen sogen mich aus, sie waren nicht mehr zu ertragen. Noch während ich in friedvolle Dunkelheit abdriftete, spürte ich die Wut, die hasserfüllte Raserei eines zweiten Geistes außerhalb meiner selbst.
    Er kreischte zornig, mit tödlichem Hass ... und ohne jede Hoffnung: »Das ist mein Körper!«
    erster teil

    1. KAPITEL
    »Sibylla?«
    Sie standen um sie herum, Nymphen und Matronen, die Köpfe dicht an dicht, sodass Sibylla kaum die Stalaktiten sehen konnte, die wie Tropfen von der Höhlendecke hingen - oder den roten Türsturz, der einen schwachen Schatten über ihr Gesicht legte. Ihr war auffallend kühl, darum ließ sie zu, dass zwei der Kela-Tenata Heilpriesterinnen ihr auf die Füße halfen. Fürsorglich wurde sie aus der Höhle und in die frische Luft geleitet.
    Die Schönheit Kaphtors! Es war die Zeit der Schlange, in der sich die Erde erneuerte wie ein Reptil, das seine alte Haut abstreift. Regen war gefallen, der das ganze Tal in leichten Dunst hüllte. In der Ferne glitzerte die Sonne auf den dunklen Wassern der Ägäis. Die blassen Schatten des Winters lagen unter den noch schlafenden Oliven- und Traubenhainen, die diesen heiligen Berg, den Wohnort des Orakels, umgaben.
    Die Heimstatt der Sibylla.
    Es ist meine Winterwohnung, dachte sie. Sie atmete tief durch, um ihren Leib nach den Ekstasen der Hellseherei zu reinigen, spürte im selben Moment, wie etwas in ihre Rippen schnitt, und senkte den Blick. Ein ebenso gewöhnliches wie fremdartiges Gewand kleidete sie. Sie trug einen bunt gemusterten Glockenrock und eine eng anliegende, kurzärmlige, taillenlange Jacke mit immensem Dekollete. Ein bestickter Bauchgurt drückte ihren vollen Busen nach vorne und oben, als wollte Sibylla ihn marktschreierisch durch die dünne Winterbluse hindurch anpreisen.
    Eine Locke dunklen Haares lag wie ein Komma auf ihrer gebräunten Brust ... und doch sah das ungewohnt aus. Was war ein Komma? Sibylla schüttelte den Kopf und verscheuchte die eigenwilligen Bilder. Sie fühlte sich noch nicht wieder völlig normal. War ein wichtiger Teil ihrer Psyche immer noch für die Göttin Kela unterwegs?
    Dann hob Sibylla den Blick und erstarrte. Statt der Felder, wo oliven und obst schlafend auf den Frühling warteten, erblickte sie Zerstörung. Für einen Atemzug senkte sich ein Schleier über die Wirklichkeit, und sie wurde erneut zum Orakel.
    Das kleine Dorf am Fuß des Berges war nur noch eine Ansammlung qualmender Ruinen. Weiße und graue Staubflöckchen fielen vom Himmel, bedeckten den Boden, erstickten alle Pflanzen, lagen schließlich kindshoch. Sie blickte in die Gesichter der Frauen in ihrer Nähe und sah sie entstellt; von Blasen bedeckt, blutig, mit kohlschwarzen Zungen, die aus lippenlosen Mündern hingen. Sie sah auf eine Nymphe, eine zukünftige Braut, und kreischte erschrocken auf. Den Bauch von einem Kind gerundet, stürzte das Mädchen ins Feuer und
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