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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
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alle sehr überraschend.«
    Â»Kann ich morgen wiederkommen?«
    Â»Ich fürchte, wir werden uns nicht wiedersehen«, verabschiedete sich der Alte höflich.
    Â»Warum?«, fragte Nadja verwirrt.
    Â»Meine Zeit in diesem Archiv ist vorbei. Man hat mich in Pension geschickt, und ich muss meine Koffer packen.«
    Â»Aber mein Vater könnte …«
    Wasily unterbrach sie mit einer Handbewegung: »Machen Sie sich keine Sorgen, mein Fräulein, ich bin ganz zufrieden so. Ohne meine Arbeit habe ich endlich einen guten Grund zu sterben. Meine Welt ist verschwunden, dieses neue Russland gefällt mir von Tag zu Tag weniger. Es gibt keinen Platz mehr für Leute wie mich, und vielleicht ist das gut so.«
    Nadja begriff, dass sie ihm kein einziges Wort mehr entlocken würde. Sie drückte seine Hand und hatte das Gefühl, eine alte Pergamentrolle anzufassen. Dann verließ sie den Raum.
    Als sie durch die Tür trat und Kirills neugieriges Gesicht sah, hakte sie sich bei ihm unter.
    Â»Was hat er gesagt?«, erkundigte sich der Sibirier.
    Als sie durch den engen Flur liefen, legte Nadja ihren Kopf an seine Schulter: »Er hat mir ein Märchen erzählt …«

Epilog
    Grafschaft Windsor, Fearn House
Samstag, 9. April, 23.52 Uhr
    Trotz der nächtlichen Stunde war es hier unten, im Vorraum zur Krypta, sehr warm und die Feuchtigkeit erdrückend. An der Wand brannte eine Fackel und verbreitete ein schwaches, rötliches Licht. In einer in den Fels gehauenen Nische stand ein großer Zinnkrug mit geschwungenen Henkeln, aus dem dichte Dampfwolken aufstiegen.
    Die drei Besten kleideten sich − wie vorgeschrieben in absolutes Schweigen gehüllt − mit langsamen Bewegungen aus. Als sie nackt waren, begann das Ritual. Yana, der Hase, ergriff den Krug und schüttete Wasser auf die Schultern von Iv, der Forelle. Glänzende Rinnsale liefen ihr den Rücken und zwischen den Brüsten hinunter, feiner Dampf stieg auf.
    Dann war Iv an der Reihe. Während sie Yana das Gefäß abnahm, um ihrerseits Florette, die Krähe, zu waschen, spürte sie Erregung in ihrer Brust aufsteigen. Jahrelang hatte sie auf die Rückkehr des Buchs der Blätter gewartet, nun hatte sich ihr Wunsch erfüllt. Nach über einem halben Jahrhundert wartete hinter der Tür der Dosierstein auf sie.
    Nachdem sie Florette benetzt und den Krug an sie weitergereicht hatte, damit sie Yana reinigen konnte, wanderte ihr Blick zu den Darstellungen der drei heiligen Tiere, die auf ihre Leiber gemalt waren.
    Als der Zyklus des Wassers beendet war, fassten die drei Frauen ihr Haar mit verschiedenfarbigen Bändern im Nacken zusammen: rot für den Hasen, schwarz für die Krähe und weiß für die Forelle.
    Endlich war es so weit, dachte Iv, während sie den Riegel der alten Tür aufschob.
    Sie nahmen ihre Plätze rings um das Buch der Blätter ein, das in der Mitte der Krypta auf dem Boden lag. Aufrecht und reglos standen sie da, jede in einer anderen Himmelsrichtung. In drei großen Armleuchtern steckten brennende Kerzen: im Süden nur eine, im Westen zwei und im Osten drei.
    Iv betrachtete die Steinscheibe, die Raye in Dublin geborgen hatte. Endlich war es die echte, die alte, von der Hand der Großen Mutter behauene. Sie war vier Meter breit und etwa so dick wie eine Treppenstufe. Der Stein war in dreizehn Segmente unterteilt. In zwölf von ihnen waren am Rand Vertiefungen eingemeißelt, deren Form jeweils verschiedenen heiligen Blättern entsprach. Das nach Norden zeigende Segment war dagegen unbearbeitet. In der Mitte des Steins befand sich eine mit getrockneten Torfbriketts gefüllte Feuerstelle, und genau darüber hing vom Deckengewölbe ein Kupferkessel. Das Feuer war erloschen.
    Diesmal bestand die Drapierung auf dem Altar aus hellem glänzenden Leinen, und anstelle der Monduhr stand nun ein Kristallkrug, der bis zum Rand mit einer reinen, klaren Flüssigkeit gefüllt war.
    Der Norden war nicht mehr verlassen. Iv sah zu Victoria, die aufrecht und reglos dastand, die Hände auf dem Unterleib. Sie betrachtete ihren nackten Körper, dann heftete sie den Blick auf das große Getreidekorn, das sie ihr kurz zuvor rings um den Nabel gemalt hatte. Victoria schien es zwischen den Händen zu halten. Nun wanderten ihre Augen hinauf zu der geschlossenen weißen Kapuze, die bis auf die Schultern reichte und die junge Frau, wie es das Ritual vorschrieb,
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