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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
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wagte den Schritt: »Könnte ich den Stein aus der Nähe sehen?«
    Die Vorsitzende der Archäologie-Behörde blieb hart: »Im Moment ganz gewiss nicht, meine Liebe. Aus Sicherheitsgründen. Aber gerne in ein paar Jahren, wenn wir ihn dem Publikum zur Verfügung stellen. Wenn …«
    Â»Verstehe …«, erwiderte Nadja ziemlich verdrossen.
    Mrs Challoner versuchte sie aufzumuntern: »Eine Tasse Tee? Dort, hinter dem Dorngebüsch gibt es einen exzellenten Kiosk. Bei dieser Kälte …«
    Â»Danke, Mrs Challoner, aber ich muss zurück ins Hotel. Einen schönen Tag noch, und entschuldigen Sie die Störung.« Nadja reichte ihr die Hand, dann drehte sie sich um und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Hätte sie es getan, hätte sie Mrs Challoner mit dem Handy am Ohr gesehen. »Wie nach Plan, Iv«, sagte Raye.

Morgen

67
    Moskau, Villa Derzhavin
Donnerstag, 7. April, 17.13 Uhr
    Gavril wartete. Von einem der bordeauxfarbenen Ledersofas des Musiksaals sah er durch das Fenster hinaus in den Park, wo vor Kurzem der letzte Schnee geschmolzen war.
    Aus der Bang-&-Olufsen-Musikanlage ertönten die entspannenden Klänge der Partita Nr. 3 a-Moll von Johann Sebastian Bach, in einer Einspielung von Ramin Bahrami. Bisweilen wurde der Klangfluss des Klaviers durch das Knistern eines Tannenholzscheits gestört, der im Kamin verbrannte.
    Borimir betrat schwankend den Raum. Er war betrunken und kaum wiederzuerkennen, sein Blick ausdruckslos, die Augen tief gerändert.
    Â»Setz dich, Borimir«, forderte ihn der Oligarch auf.
    Der Butler sah sich um wie ein gehetztes Tier, dann folgte er der Aufforderung, lief einige unsichere Schritte durch den Saal, bis er, mit einem Rest an Haltung, am äußersten Ende des Sofas rechts von Gavril Platz nahm. Er konzentrierte sich sofort auf die Flammen im Kamin, fand nicht den Mut, seinem Chef ins Gesicht zu sehen.
    Gavril sagte mindestens zwei Minuten lang keinen Ton, musterte ihn nur hin und wieder mit unergründlichem Blick.
    Schließlich brach er das Schweigen. »Warum bist du nicht geflohen, Borimir?«, flüsterte er. »Du hattest drei Monate Zeit, es zu tun.«
    Der Butler antwortete nicht.
    Gavril erhob sich, auf einen Stock mit Silberknauf gestützt. Obwohl er spürte, wie er von Tag zu Tag mehr zu Kräften kam, war er noch immer in der Phase der Genesung, und die lange Zeit der Untätigkeit hatte ihn insgesamt stark geschwächt. Die Bewegung kostete ihn daher beträchtliche Mühe.
    Er setzte sich neben Borimir und legte ihm eine Hand auf das Bein. Der Mann zuckte zusammen.
    Gavril schwieg einen Moment lang, dann wiederholte er die Frage: »Warum bist du nicht geflohen, Borimir?«
    Auch diesmal antwortete der Butler nicht.
    Also ergriff Gavril erneut das Wort. Er sprach langsam: »Zu einem anderen Zeitpunkt meines Lebens hätte ich dich wahrscheinlich gevierteilt.«
    Er unterbrach sich einen Augenblick, dann fuhr er noch langsamer fort: »Ich hätte vier meiner besten Rennpferde genommen, die, die ich im August nach Deauville schicke, ich hätte dich an Händen und Füßen gefesselt und dann …«
    Er zog die Hand von Borimirs Bein, als habe er etwas Verseuchtes berührt, dann richtete er sich mühsam wieder auf und kehrte auf seinen alten Platz zurück. »Woran habe ich es dir fehlen lassen in diesen zwanzig Jahren?«, fragte er.
    Borimir starrte in das Feuer.
    Â»Es gibt wenig Menschen, denen ich vertraue«, fuhr Gavril fort. »Du warst einer von ihnen. Wenn ich nicht da war, hast du dich um die Frauen gekümmert. Du hast Nadja zur Schule gebracht … Catherine hat dich über alles geschätzt …«
    Eine stumme Träne lief über die vom Alkohol gerötete Wange des Butlers.
    Â»Packe all deine Sachen«, befahl Gavril. »Jetzt. Sofort. Verschwinde von hier, so weit weg wie möglich. Und sorge dafür, dass sich unsere Wege nie wieder kreuzen.«
    Borimir schwieg noch immer. Er stand auf, verneigte sich tief, wobei diese Geste etwas Feierliches an sich hatte, und lief dann zur Tür. Erst kurz vor dem Hinausgehen wandte er sich um, sodass sein Blick zum ersten Mal den von Gavril traf: Aus seinen Augen schrie die Reue.
    Â»Diese Frau …«, nuschelte er.
    Dann verschwand er.
    Erneut allein, konzentrierte sich Gavril auf das Feuer. Der Anblick der Glut weckte sein Verlangen nach einer Zigarre, aber er musste den
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