Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
Vom Netzwerk:
ein Vater zur Seite stand. Aber eigentlich hatte er nicht gerade die fürsorgliche Haltung eines Vaters an den Tag gelegt, sondern eher die eines Verehrers, für den sie immer unerreichbar bleiben würde. Deshalb erwies er ihr jeden erdenklichen Gefallen, denn ihm war bewusst, dass das für ihn die einzige Möglichkeit war, ihr ein wenig nahe zu sein. Victoria hatte oft die Missgunst der Kollegen gespürt, die hinter den Kulissen eine undurchsichtige Beziehung zwischen ihr und dem Regisseur argwöhnten, da sie sich den Einfluss, den sie auf ihn ausübte, anders nicht erklären konnten.
    Was Daniel, den Choreografen, betraf, hatte Victoria ziemliche Mühe darauf verwendet, sich die Tanztechnik anzueignen, die er eigens für sie entwickelt hatte, um ihre Erscheinung und ihre Persönlichkeit in ein besonderes Licht zu rücken. Auf den ersten Blick waren es einfache Bewegungen, aber sie erforderten harte Übung. Mehr als einmal hatte sie geglaubt, es nicht zu schaffen, aber Daniel hatte ihr immer geholfen, diese heiklen Momente zu überwinden.
    Hinzu kam der Gedanke an die Zeit, die vor ihr lag. Nach der Premiere waren weitere dreißig Vorstellungen allein in New York geplant. Anschließend würde sie für ein Jahr auf Tournee gehen, von einem Ende Nordamerikas zum andern, und schließlich bis nach Europa. Es würde hart werden, aber es war zu schaffen.
    Erst in diesem Augenblick bemerkte sie einen langen gelben Umschlag, der aufrecht in einer Haarbürste steckte. Er war an sie adressiert. Sie drehte ihn um und las den Absender: Iv Lily.
    Ihr Herz begann zu rasen, eilig riss sie den Umschlag auf und zog ein Flugticket New York–London sowie ein Kärtchen hervor:

    Ãœbermorgen Abend musst du hier sein. Ich erwarte dich. Iv.
    PS: Du warst großartig. Aber daran habe ich nie gezweifelt.
    Verwirrt las Victoria die Nachricht ein zweites Mal, dann überprüfte sie das Datum des Flugtickets. Eindeutig: Madame forderte sie auf, das Ensemble gleich nach der Premiere im Stich zu lassen. Sollte das ein Witz sein?
    Sie steckte die Karte und das Ticket zurück in den Umschlag und legte ihn zweifelnd auf das Tischchen.
    Wie konnte sie so etwas von ihr verlangen? Ausgerechnet jetzt, nach einem derartigen Erfolg!
    Victoria griff erneut nach dem Umschlag. Sie hatte gute Lust, ihn einfach zu zerreißen. Sicher würde sie eine Vertragsstrafe zahlen müssen, wenn sie sich jetzt zurückzog. Dann dachte sie nach. Es war noch nie vorgekommen, dass Madame einen Plan nicht absolut genau durchdacht hatte. Um die Vertragsstrafe würde sie sich bestimmt kümmern. Wenn sie von ihr verlangte, nach London zu kommen, musste etwas sehr Wichtiges vorliegen. Aber etwas derart Wichtiges, dass sie dafür ihr Ensemble verlassen sollte?
    Â»Was zum Teufel hast du vor, Madame?«, fragte Victoria den Spiegel.
    Dann seufzte sie. Sie fand keine Antwort.
    Sie sah, wie sich die eiserne, charakterstarke Grace vor ihren Augen in die junge Frau zurückverwandelte, die wenige Monate zuvor voller Hoffnung aus London aufgebrochen war. Es gab keine Maske mehr, hinter der sie sich verstecken konnte. Victoria war zurückgekehrt.
    Sie griff nach einem Wattebausch, tunkte ihn in die Reinigungsmilch und wischte sich damit über die Wangen, die Nasenspitze und die Stirn. Sie spürte, wie sich die Schminke auflöste, und nach ein paar Minuten war Grace vollkommen verschwunden, als habe sie nie existiert.
    Victoria zog das Kostüm aus und blieb nackt vor dem Spiegel stehen. Sie wandte sich um und betrachtete das winzige Symbol, das sie sich auf das rechte Schulterblatt hatte tätowieren lassen.

    Â»Aaalllaaaaa«, sprach sie mit halblauter Stimme. Dann wurde sie allmählich lauter, beinahe durchdringend.
    Etwas in ihrem Unterleib geriet in Bewegung. Es war die Silbe, mit der sie sich zum ersten Mal in Einklang gebracht hatte. Danach waren viele weitere Male gefolgt.
    Plötzlich begriff sie.
    Iv hatte sie jahrelang darauf vorbereitet, Erfolg zu erlangen. Nun brachte sie ihr durch wenige Zeilen bei, ihn wieder zu verlieren. Es gab höhere Ziele für eine Schwester.
    Während sie sich das Abendkleid anzog, das ihr Bill zu diesem Anlass geschenkt hatte, dachte Victoria an Keira Lee, die Schauspielerin, die man im Notfall als Ersatz für sie gewählt hatte. Sie würde sich sicherlich freuen.
    Aber all das war nicht so wichtig. Am meisten beschäftigte sie der Wunsch zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher