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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
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Ort.
    An diesem Morgen, in der weißen, gedämpften Stille, wirkte der Park wie ein verlassener Landstrich. Es hatte vor Kurzem aufgehört zu schneien, und der große Parkplatz am Ende der Old Finglas Road war leer. Nirgends eine Menschenseele.
    Der Fahrer des Taxis, in das sie am James Connolly Memorial Hospital gestiegen war, hatte ihr erklärt, dass Schnee in Dublin ein eher seltenes Phänomen sei. In dieser Gegend regnete es bloß immer. Das hatte mit den häufigen atlantischen Tiefausläufern zu tun, die wegen des Golfstroms stets für mildes Wetter sorgten.
    Er meinte, die Leute blieben bei derart starken Schneefällen aus Angst vor Unfällen lieber zu Hause. Als Nadja die Fahrt bezahlte und sich zerstreut bedankte, dachte sie, dass es für das, was sie vorhatte, ein wahrer Glücksfall war. Außerdem war sie froh, sich nach so langer Zeit unter stetiger Bewachung endlich einmal ohne Begleitung bewegen zu können: Nicht dass ihr die fürsorgliche Bewachung Kirills missfallen hätte, aber die der anderen hatte sie als bedrängend empfunden.
    Der ungeduldige Blick des Taxifahrers rief sie in die Realität zurück. Sie hängte sich die Tasche um, zupfte die Wollmütze zurecht und stieg aus dem Wagen. Dann eilte sie auf die Kasse neben dem großen Metalltor zu. Niemand stand an. Sie zahlte und erhielt, zusammen mit der Eintrittskarte, einen Plan der Parkanlage. Gleich zu Beginn des Hauptweges blieb sie stehen, um ihn zu studieren. Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, nahm sie ihr Handy und ließ Google Earth auf dem Display erscheinen. Sie berührte mit den Fingern den Touchscreen und zoomte erst Europa, dann Irland heran, bis sie Dublin und schließlich den Botanischen Garten als Ausschnitt vor sich hatte. Dort befand sich ein gelbes Fähnchen, eine Markierung, die sie genau an der Stelle gesetzt hatte, die den Koordinaten aus Olga Twardowskis Entwurf entsprach:
    Breite 53º 22' 18,02'' N
    Länge 6º 16' 16,33'' W
    Exakt an diesem Punkt befand sich laut Karte eine Sonnenuhr, vor dem Haupteingang zum Palm House, dem großen Gewächshaus.
    Sie steckte ihr Handy in die Tasche: Es würde nicht schwer sein, sie zu finden.
    Während sie durch den vollkommen verlassenen Park lief und gleichmäßige, tiefe Spuren in dem frischen Schnee hinterließ, dachte sie, wie unglaublich ihre ganze Situation eigentlich war. Sie wusste genau, wo sie suchen musste, aber sie hatte keine Ahnung, wonach sie eigentlich suchte.
    Lena hatte von einem Dosierstein gesprochen. Sie hätte gern mehr von ihr erfahren, aber es war der günstigste Augenblick gewesen, um sie zu überraschen.
    Als das Gewächshaus in Sichtweite kam und sie den Weg hinab zur Sonnenuhr schaute, fiel sie aus allen Wolken. In etwa hundert Metern Entfernung war das Gelände mit Verbots- und Warnschildern abgesperrt. Innerhalb dieses Bereiches bewegte sich eine Gruppe von Arbeitern in gelber Wetterschutzkleidung. Rings um sie herum Holzpaletten, eine riesige Rolle mit verzinktem Stahlband zur Befestigung schwerer Lasten, zwei kleine gelbe Bagger mit Frontgreifer sowie ein Kran. Ein Lastwagen mit geöffneter Ladeklappe wartete in wenigen Metern Entfernung.
    Nadja trat so dicht wie möglich an die Absperrung. Niemand achtete auf sie.
    Der Schnee war beiseitegeschoben und auf die angrenzende Wiese geschippt worden, die Sonnenuhr hatte man mitsamt ihrem Sockel abgebaut und ein Stück weiter abgesetzt. An ihrer Stelle befand sich ein mehrere Meter tiefes, etwa vier Meter breites, kreisrundes Loch. Ringsherum standen Arbeiter und hielten eine große flache Steinscheibe in die Höhe. Offenbar hatten sie sie gerade erst geborgen, denn sie war noch mit Erde bedeckt.
    Unter der Leitung des Vorarbeiters trugen die Arbeiter sie vorsichtig zu einer großen Holzkiste und ließen sie langsam senkrecht von oben hineingleiten.
    Bevor die Scheibe verschwand, bemerkte Nadja auf der Oberseite eingemeißelte, an eine Sonne erinnernde Strahlen. In den Kreissegmenten zwischen diesen Strahlen erkannte sie seltsame, reliefartige Vertiefungen, wie Sandförmchen für kleine Kinder. War das das sogenannte Buch der Blätter? Der Grund für den Tod ihrer Mutter und vieler anderer Menschen? Was sollte daran so Besonderes sein? Und vor allem: Wer transportierte diesen Stein ab?
    Sie beugte sich über das Absperrband, das die Warnschilder miteinander verband, und versuchte, die
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