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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft
Autoren: Roger R. Talbot
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diesem Mädchen ein echtes Talent verbarg. Victoria sah ihm in die Augen, und er wandte beinahe verlegen den Blick ab. »Iv wird dich sicher auf die Probe vorbereitet haben …«
    Â»Um ehrlich zu sein, nein«, gestand Victoria freimütig. Madame hatte ihr nicht einmal den Titel des Musicals genannt. Nach dem letzten Unterricht war der einzige Kontakt, den sie mit ihr gehabt hatte, diese Aufforderung per SMS gewesen, zur Probe zu erscheinen.
    Die drei sahen sich erstaunt an.
    Â»Du bist Victoria Price, oder?«, fragte die Produzentin.
    Â»Ja, natürlich.«
    Â»Und du wusstest nichts von dieser Probe?«
    Â»Nein. Nichts.«
    Der Regisseur schnaubte: »Hoffen wir, dass uns Iv da nicht einen üblen Streich gespielt hat …«
    Â»Wo ich nun schon einmal hier bin«, wagte Victoria einzuwenden, »würde ich es gern auf jeden Fall probieren …«
    Der Choreograf sah zu Caroline, die mit einem Nicken antwortete. »Kannst du singen?«, fragte er.
    Â»Natürlich«, antwortete Victoria. Selbstverständlich konnte sie singen. Ebenso wie sie tanzen und spielen konnte. Was dachten denn die Amerikaner, was englische Schauspieler lernten?
    Â»Kannst du Noten lesen?«, begann Daniel erneut und nahm einen Stapel Noten zur Hand.
    Â»Sicher«, nickte Victoria.
    Der Mann reichte ihr ein Blatt. Der Titel des Werks hieß Mercy of Grace.
    Â» Wir lassen hier für die Hauptdarstellerin vorsprechen«, begann der Choreograf zu erklären. »Grace, die dem Musical seinen Titel gibt, ist eine Sängerin, die nach unzähligen Schwierigkeiten endlich zu Ruhm gelangt. Sie stammt aus Montana, wächst in bescheidenen Verhältnissen auf und hat eine etwas schwierige Beziehung zu den Eltern. So geht sie, noch sehr jung, von zu Hause fort und landet in New York, wo sie mit ihrem Traum, ein Star zu werden, gegen eine Mauer der Gleichgültigkeit anzurennen scheint. Um sich über Wasser zu halten, unternimmt sie alles Mögliche, bis sie …«
    Â»Bis sie schließlich dem üblichen Märchenprinzen begegnet, der ihr Leben verändert und ihr zum Durchbruch verhilft. Stimmt’s?«, unterbrach ihn Victoria.
    Ihre Bemerkung erstaunte Daniel. »Stimmt.«
    Â»Was für ein Scheiß!«, entfuhr es Victoria.
    Der Choreograf riss die Augen auf.
    Â»Kannst du das bitte wiederholen?«, fuhr Caroline auf.
    Â»Nun«, drängte der Regisseur. »Ich würde gerne erfahren, wie das Fräulein darauf kommt, drei Jahre Arbeit als Scheiß abzutun. Wir wollen mal hören …«
    Victoria begriff nicht, wie zum Teufel ihr diese Worte herausrutschen konnten. Sie waren ihr einfach so über die Lippen gekommen, als wenn die drei, die sie dort vor sich hatte, nicht ihre Zukunft bedeuten würden, sondern irgendwelche Leute wären, mit denen man ein paar Worte wechselt, während man gemeinsam auf den Bus wartet.
    Der Regisseur trat auf sie zu: »Erkläre uns jetzt mal genauer, weshalb Mercy of Grace deiner Meinung nach ein Scheiß ist.«
    Â»Ich sagte, es ist ein Scheiß, weil die Geschichte mit dem Märchenprinzen längst keiner mehr hören mag. Ich kenne niemanden, der etwas einfach aus Selbstlosigkeit tut. Natürlich wird Grace sehr hübsch sein, denn sonst würde wohl kein Märchenprinz sie beachten … Außerdem reicht es mit diesem abgedroschenen Ich werde dich retten! Sowohl in England als auch in Amerika sind die Mädchen bestens in der Lage, sich selbst zu retten, und − entschuldigt, dass ich das sage − wenn sie das soundsovielte Stück mit einem Märchenprinzen vorgesetzt bekämen, der alles in Ordnung bringt, würden sie es auspfeifen! Die Zeiten von My Fair Lady, aber auch die von Pretty Woman sind vorbei. Die jungen Frauen von heute haben keine Lust mehr, mit dem Taschentuch in der Hand dazustehen und sich die Tränen abzuwischen, weil weit und breit kein Märchenprinz auftaucht. Wäre es nicht besser, wenn es diese Grace, wenn auch unter tausend Schwierigkeiten, dank ihres Talents und ihrer Entschlossenheit schaffen würde? Dank ihrer Fähigkeit, die jeweils Mächtigen für sich zu begeistern, sie jedoch im Schach zu halten und sie vielleicht sogar auszunutzen? Dann wäre sie wirklich eine Figur auf der Höhe unserer Zeit …Wenn sie dann obendrein noch ihre Liebe findet, umso besser, aber ohne jeden Zwang. So. Das ist alles.«
    Atemlos hielt Victoria inne.
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