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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen
Autoren: Valeria Luiselli
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drauf und dran ist überzuschwappen. Zuweilen fürchte ich, mich von meinem Spiegelbild zu lösen, nicht dass ich mich am Ende umdrehe und mich außerhalb meiner selbst ergieße, außerhalb meiner Epidermis, wie der Antimensch aus dem Gedicht, das Gorostiza endlich fertig bekommen hat. Was für ein obszön klinisches Wort, Epidermis. Warum nicht Haut? Warum nicht Fell? Ich kehre zu Eliot zurück und weiß, dass ich nicht mehr nach Mexiko zurückkehren werde – oder falls doch, dann in einer kleinen Urne, auf der mein Name steht und vielleicht:
    Because I do not hope to turn again
    Because I do not hope
    Because I do not hope to turn.
    Oder diese meine Verse, den seinen verschwistert:
    Vielleicht Morgen die Sonne in meinen Augen ohne irgendjemand,
    Vielleicht Morgen die Sonne,
    Vielleicht Morgen,
    Vielleicht.
    *
    Die Kinder und ich spazieren wie drei Katzen durch die dunklen Winkel, heben Dinge auf, die runtergefallen sind, die runterfallen, die weiter runterfallen.
    *
    Heute, als ich eine der Katzen streicheln wollte, bemerkte ich, dass sie keinen Schwanz hatte. Ich hab nach den anderen beiden gesucht und sie unter dem Küchentisch ertastet. Ich suchte nach ihrem Schwanz: nichts. Wie können drei Katzen ihren Schwanz verlieren? Nicht einmal ein Stummel, keine Narbe, nichts. Nur ein runder kleiner Hintern und üppiger Fellwuchs dort, wo früher ein Schwanz war.
    *
    Der Mittlere spielt Versteck in diesem riesigen Haus voller Löcher. Es ist wieder eine andere Variante des Spiels. Es gilt, seinen Vater zu finden.
    Weißt du, was da passiert ist, Mama?
    Was?
    Das Haus ist größer und größer und Papa ganz klein geworden, man muss ihn finden und in ein Glas stecken, wie eine Spinne.
    *
    Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Homer?
    Nur zu, Owen.
    Verschwinden auch die Wörter langsam?
    Was meinen Sie?
    Wenn Sie seit zehn Jahren keinen Baum gesehen haben, hat das Wort »Baum« dann noch Sinn?
    Wie lange haben Sie nicht mehr mit einer Frau geschlafen?
    Eine ganze Weile.
    Und Sie erinnern sich nicht mehr?
    An was?
    Na, wie das ging.
    Nein. Doch.
    Genau so ist es.
    *
    Wir haben gesucht. Wir haben ein paar Dinge zwischen all dem Stückwerk gefunden: ein Buzz Lightyear, einen kühlbaren Beißring, einen schaumigen Brontosaurier, eine Rassel. Meinen Mann haben wir nicht gefunden. Zwischen den hinuntergefallenen Büchern haben wir einen meiner alten Klebezettel mit Notizen über Gilberto Owen gefunden.
    Merke: Als Kind besaß Owen »die sechs magischen Sinne«. Er konnte Erdbeben voraussagen. Die Ärzte von El Rosario schlugen vor, seinen Schädel zu öffnen.
    *
    Manchmal nachts bin ich der speiende Zwerg. Ich schreibe Briefe an die Kinder, weil alle anderen, die in Mexiko, endgültig gestorben sind. Nach Mexiko könnte ich nicht zurückkehren – wozu auch? –, obwohl ich weiß, dass ich einen Roman schreiben sollte, der in Mexiko Stadt spielt. Doch ich schreibe nicht mehr als Notizen zu einem Roman, den ich schreiben sollte, neben meinem Orangenbaum. Und einen Brief an meine Kinder, von dem ich nicht weiß, wohin ich ihn schicken soll, da ihre Mutter mich nie wissen lässt, in welcher Stadt sie gerade sind. Wenn man Euch, Kinder, erzählt, dass ich sterbe, dann ist das gelogen, ich löse mich nur langsam auf. Es heißt, ich werde allmählich blind. Aber auch das ist nicht wahr: Es ist nur so, dass ich verschwimme, ihr aber werdet mich immer sehen können. Was stimmt, ist, dass ich einen dicken Bauch habe. Ich wohne mit drei schwanzlosen Katzen zusammen, die euch gut gefallen würden.
    *
    Merke: Den Empfehlungen der Ärzte aus Sinaloa folgend und auf Grund drohender revolutionärer Umtriebe im Norden, zog die Familie Owen nach Toluca um.
    *
    Im Konsulat kam ein Brief an mit einem Foto vom Abend der Tanzvorstellung. Ich war darauf einfach nicht zu sehen. Aber es war nicht so, dass die Kamera mich ausgespart hätte. Statt meiner Gestalt war da ein Schatten, ein leerer Raum, der in die Kamera lächelte. Ich markierte meinen Schatten mit einem X, steckte das Foto in einen anderen Umschlag und schickte es Salvador, um seine Diagnose zu bekommen.
    Nach einer Woche kam seine Antwort: »Es ist wahr, lieber Subwicht, du bist nicht da.«
    *
    Auf meinem Tisch fand ich einen Merkzettel, den ich definitiv nicht geschrieben hatte. Ich nehme meine Lupe zur Hand und lese unter Mühen:
    Merke: (Owen an José Rojas Garciadueñas, Philadelphia, 1951) Womöglich ist das mein letztes Buch. Es wird einen Titel haben, den noch keiner in diesem
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