Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen
Autoren: Valeria Luiselli
Vom Netzwerk:
Wocheneinkauf erledigte, als die Zugführer, die Briefträger, die Friseure, als meine Kinder und deren Mutter in irgendeiner Stadt in Europa. Ich nehme an, ich habe irgendwie mein Leben damit verbracht, um ein hübsches kleines Tuch herumzutanzen.
    Die Vorstellung war ein Erfolg. Als wir das Theater verließen, machte ein Reporter ein Foto von mir, Limón und zweien der Tänzer. Ich hielt den kleinen Limón am Arm und setzte mein bestes Lächeln auf. Die Sekretärin hatte sich auch eingeschlichen, sie hatte sich zwischen die beiden Tänzer gestellt und »cheese« gesagt.
    *
    Das Ende einer Liebe ist nie episch. Keiner stirbt, keiner verschwindet wirklich, nichts hört auf aufzuhören. Ich dagegen sterbe sehr wohl, und die Leute verschwinden auch. Meine Liebesgeschichte mit der Norwegerin hört so auf: Am 29. Oktober 1929 wachten Iselin und ich im Hotel Astor in der Bowery auf und stellten das Radio an. Es erklang das Lied
Peregrino de amor
von Guty Cárdenas, der Schlager des Sommers, der auch im Herbst noch aus den New Yorker Radiostationen klang. Ich steckte mir eine Zigarette an und sagte zu Iselin: Guty Cárdenas kommt bestimmt aus Sinaloa. Iselin wusste nicht einmal, wo die Stadt Mexico lag. Sie wollte die Nachrichten hören. Die Nachrichtensender waren seit ein paar Tagen auf die Börsenkurse und ihr bevorstehendes Fallen fixiert.Ich wollte in Ruhe weinen: über Guty Cárdenas, über was auch immer. Ich sollte nach Detroit versetzt werden, und ich wusste nicht mal, wo das auf der Karte der United lag. Iselin blieb stur. Wir drehten den Knopf, bis wir einen
reporter
dran hatten. Wenige Blocks von unserem Hotel entfernt, erzählte die körperlose Stimme, beginnt das Ende. Basta, Iselin, sagte ich und suchte wieder nach dem Sender mit Musik auf Spanisch. Aber Iselin setzte sich immer durch: Komm doch, Gilberto, komm, wir schauen, was auf der Straße los ist.
    Die Straßen um die Bowery waren leer. Aber je näher wir dem Finanzdistrikt kamen, desto deutlicher hörten wir ein verzweifeltes Summen, wie von Hunderten wild gewordener Bienen. Leute liefen eilig von hier nach dort, wie jeden Tag, aber jetzt sahen sie alle ein bisschen nach den Schattenmenschen aus, die ich zuweilen in den Eingeweiden der Stadt sah.
    Als wir dem Börsengebäude näher kamen, zeigte Iselin zum Himmel: Da beugte sich ein Mann aus einem Fenster. Und in eben dem Augenblick sahen wir ihn springen. Oder vielleicht ließ er auch nur los, ließ sich fallen. Der Körper fiel langsam, zunächst – fast wie ein im Flug gehaltener Vogel. Aber bevor wir noch den Blick senken konnten, trudelte schon ein Hut vor unsere Füße, steckte ein Schuh in dem Belüftungsgitter eines Abwasserkanals, war ein Bein vom restlichen Körper abgetrennt, der rothaarige Kopf auf dem Bordstein zerschmettert. Iselin nahm mich am Arm und grub das Gesicht in meine Schulter. Langsam gingen wir weiter, wollten uns so weit wie möglich von der Menschenmengeentfernen, die schon einen Kreis um den Gefallenen gebildet hatte.
    Da sah ich Federico. Er saß auf einer Bordsteinkante, euphorisch, ein Heft in den Händen und machte sich Notizen. Wir gingen zu ihm.
    Du wirst doch jetzt nicht etwa schreiben, Federico?, fragte ich ihn.
    Er hob den Blick wie ein Automat.
    Ich kann nichts schreiben, Kollege, nur eine Zeile: »Geraune im Finanzdistrikt …«
    Und was machst du dann hier?
    Ich ging davon aus, dass ich mich vom letzten Stockwerk dieses Gebäudes gestürzt hatte, aber das war wohl eine Halluzination, denn ich sitz ja hier und spreche mit dir.
    Ich möchte dir Iselin vorstellen.
    Wen?
    Iselin.
    Von was redest du, Kerlchen? Siehst du schon wieder deine Untergrundgestalten?
    *
    Zum Abendessen gibt es süße Tamales. Der Vater der Kinder sitzt oben und schaut fern, während sie mir in der Küche Gesellschaft leisten. Die Kleine spielt auf ihrem Hochstuhl mit einem Topf. Der Mittlere hilft mir den Tisch decken (drei Stoffsets, große Teller, kleine Teller, Gabel, Messer, zwei Gläser, ein Plastikbecher).
    Wenn du willst, kann ich auch schon aus einem richtigenGlas trinken, sagt er, und ich lass ihn zum ersten Mal ein erwachsenes Glas benutzen.
    Die Kleine haut gerade mit einem Löffel auf den Topf, als wir es zu spüren beginnen. Vielleicht zuerst so etwas wie eine Vorahnung, ein ganz leichter Schwindel. Später die innere Erschütterung und dann die äußere, die der Gegenstände. Wir drehen uns um, wie zur Bestätigung dessen, was wir alle gerade erleben. Es bebt. Alles bebt, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher