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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen
Autoren: Valeria Luiselli
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Haus knirscht, die Gläser fallen von den Borden und zerbrechen in so viele Scherben, dass das Licht der einzigen Lampe sich wieder und wieder in der ganzen Küche vervielfältigt. Auf eine gewisse Weise ist das Lichtspektakel herrlich. Die Kleine lacht. Wir hören die Bücher im Wohnzimmer fallen, erst ein paar wenige, dann ein ganzer Katarakt. Und dann nichts mehr. Eine Ruhe, die wir nicht kannten.
    Ich hebe die Kleine aus ihrem Kinderstuhl, und wir kriechen alle drei unter den Tisch. Das Licht geht aus. Wir hocken in einer Umarmung da, unter dem gedeckten Tisch, schauen schweigend auf die Flamme im Backofen, wo die Tamales aufgewärmt werden.
    Gegen den Feuerschein sehen wir die Silhouette einer Madagaskar-Kakerlake vorbeikrabbeln.
    Pa-pa, sagt die Kleine.
    Es ist das Einzige, was sie sagen kann. Erneutes Beben, diesmal stärker.
    Pa-pa, sagt die Kleine und lacht.
    *
    Heute sind die Kinder nach Europa aufgebrochen. Heute habe ich auch vier Pässe ausgestellt und neun Touristenvisa erteilt. Als ich aus dem Büro ging, bin ich zum Supermarkt hinein und habe ein Päckchen Cracker, eine Flasche Milch für die Katzen und einen Whisky gekauft. Fitzgerald, so dachte ich, hätte sich wohl einen Whiskey gekauft, mit »e«. Ich habe keinen Koffer gepackt, bin nirgendwohin gefahren. Er hat einen Koffer gepackt und ist gegangen, er fuhr ein Cabrio. Ich habe ein Taxi zu meiner Wohnung genommen. Man kann sich gut vorstellen, dass er nach stundenlangem Fahren über die erbarmungslos monotonen Highways an einem Ort Halt machte, an irgendeinem Ort. Ein Motel. Mit dem Geld, das er hatte, kaufte er sich eine Portion gekochtes Fleisch, Äpfel, ein Päckchen Cracker, eine Flasche. Ich betrete meine Wohnung und verriegle die Tür. Die drei Katzen wickeln sich abwechselnd um meine Beine. Er hat sich in einem Hotelzimmer eingeschlossen. Er wusste, dass er eine traurige Haltung gegenüber der Traurigkeit entwickelt hatte, eine melancholische Haltung zur Melancholie und eine tragische Haltung zur Tragödie. Ich setze mich an den Küchentisch, hole zwei Eiswürfel heraus, gieße den Whisky ein und öffne die Verpackung der Cracker. Daneben öffne ich das Katzenfutter, die drei kommen heran und schlecken widerwillig an der Dose. Die Flasche fällt hin und ergießt sich über den Tisch, sie springen verschreckt weg, kommen dann aber zurück und lecken die Pfütze auf. Da gilt es, etwas zu begreifen, etwas, das vielleicht der späte Schmerz von einem Hieb war, der Reflex auf einen jener langsamen, aber gezieltenSchläge, die nicht von draußen kommen und denen man nicht vorbeugen kann. Ich esse einen Cracker und noch einen und höre nicht auf zu kauen, bis ich eine Teigkugel geformt habe, eine Masse, die mit jedem Schluck Whisky durchfeuchtet wird und wächst. Fitzgerald hat sehr früh schon die unvermeidliche Auflösung bemerkt und vorzeitig den eventuellen endgültigen Kollaps geprobt. Ich habe vielleicht zu lange gewartet. Der kleine Ball wächst. Er erkannte auch, dass nichts anderes übrigblieb, als weiter zu schreiben. Aber was zum Teufel soll ich schreiben? Ich stecke noch einen Cracker in den Mund, den letzten der Packung, und rufe die Kinder an, die schon nicht mehr ans Telefon gehen. Mein Gaumen ist wund, ich notiere mir etwas neben meinem Orangenbaum.
    *
    Wir haben die Eingangstür nicht gefunden. Können auch nicht hoch zum ersten Stock, wo mein Mann sein muss. Wir hören ihn nicht. Ich nehme an, dass dort alles von dem eingestürzten Teil des Dachs blockiert ist. Wir kommen noch in die Küche, allerdings gibt es dort weder fließend Wasser noch Gas.
    Aber da ist noch ein wenig Wasser in dem Topf, in dem wir die Tamales aufgewärmt haben. Heute haben wir in dem kleinen Hof, der die Küche mit dem Wohnzimmer verbindet, eine halb verdorrte Pflanze in einem Blumentopf gefunden. Wir nehmen an, dass sie von der Dachterrasse gefallen ist, wo wir mal versucht haben, einen Garten anzulegen. Der Mittleresagt, er will hineinspucken, um nicht das Wasser im Topf fürs Gießen zu verschwenden.
    *
    Ich bin am Küchentisch eingeschlafen, während ich Eliot las. Ich stehe auf und schau mich im Badezimmerspiegel an. Ich bin ein Schatten, meine schwächliche Grimasse ist an die Stelle gerückt, wo einst mein Gesicht war. Ich glaube, es ist nicht so, dass ich langsam blind werde, ich glaube, ich verschwimme. Mein Gesicht endet nicht mehr mit einem Umriss; es dehnt sich bis zum Rahmen des Spiegels aus, der mich in sich trägt, wie ein volles Glas, das
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