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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen
Autoren: Valeria Luiselli
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Zeit gefeilt hatte. Ich stellte mir vor, dass es sich um eine zugleich vereinfachte wie übertriebene Version von einem weiteren Fragment über die Straßen von Manhattan handelte, das uns Z vorgelesen hatte. Bis dahin hatte Federico kindische Gedichteüber seine Einsamkeit im Viertel der Columbia University geschrieben und über seine – etwas herablassende – Bewunderung für die Schwarzen. Federico wollte, dass ich Teile des von ihm Gelesenen spontan übersetzte. Ich würde gehorchen, ein wenig bekümmert, oder vielleicht auch ein wenig ermuntert von der Vorstellung, dem Españolet die Socken runterzuziehen und den Mechanismus seiner Verse bloßzulegen, die, nach meinem Dafürhalten, nie so reich sein würden wie die des Yankees. Doch Federico las ein paar prophetische, brutale, herrliche Verse über einen Wiener Walzer. Da gab es ein Museum des Frosts, einen Saal mit tausend Fenstern und einen Wald ausgedörrter Tauben. An viel mehr erinnere ich mich nicht. »Fotografien und Lilien«, so endete ein Vers, den ich hätte schreiben mögen.
    *
    Einige Monate, bevor ich Manhattan verließ, schickte ich Novo mein »Selbstporträt oder über die Subway«, an dem ich monatelang gekürzt und gefeilt hatte, als säßen mir Pound und Z und Federico im Nacken:
    Wind nur doch berichtigt im Bett der Flöte
    Die Sünde des Benennens verbrennt mich Sohn an einem Faden meiner Augen schwebend
    Leb wohl, hohe Blume ohne Furcht und Tadel, zur Geografie verdammt und an eine Küste mit Geschlecht du vertikal rein unmenschlich
    Leb wohl, Manhattan, von der Zeit und meiner unheilbaren Eile angekratzte Abstraktion
    Fallen
    Nächtiges Gespenst jenes Flusses der sich in einem einzigen Bett gefunden träumte
    Zurückkehren in der gefallenen Nacht zum Auf und Ab des Niagara
    Welch David wirft den Stein aus Luft und verbirgt die Schleuder
    Und vor uns keine Stirn die uns rechtfertigt Bewohner eines träumenden Echos
    Nur ein somnambuler Uhren-Engel der uns weckt an der richtigen Station
    Leb wohl, sinnlicher Traum sinnliche Theologie im Süden des Traums
    Es gibt Dinge ach die ohne die Sinne zu wissen uns schmerzt
    *
    Ins Konsulat kam eine Einladung. José Limon & Company präsentieren das Ballet
The Moore’s Pavane
mit Musik von Purcell. Sie treten im Robin Hood Dell Auditorium von Philadelphia auf. Gewissermaßen in meiner Eigenschaft als Repräsentant Mexikos erwartet man von mir, dass ich zu dieser Art von Veranstaltungen gehe, selbst wenn ich blinder als eine Heuschrecke bin. Ich erinnerte mich bestens an den kleinen Limón, der in einem New Yorker Apartment meisterhaft gescheitert war, dann viele Jahre lang verschwunden war und jetzt als Star des modernen Tanzes auftaucht. Und, ehrlich gesagt, darauf hatte ich große Lust.
    Man schickte uns zwei Eintrittskarten, also begleitetemich die Konsulatssekretärin: eine kleine Dicke, sehr aus Oaxaca, deren Zunge nie stillstand. Die Lichter erloschen, und ein einziger Scheinwerfer blendete auf, ein leuchtender Punkt exakt in der Mitte der Bühne. Meine Begleiterin begann mir ins Ohr zu erzählen (sie roch etwas aus dem Mund, nach fauligem Salat): Jetzt stehen da schon die vier Tänzer und halten sich an den Händen, zwei Männer und zwei Frauen, wundervolle Körper alle vier, sie bilden einen Kreis. Die zwei Männer strecken das eine Bein sehr hoch, dann die Frauen. Entzückend.
    Ich unterbrach sie: Sie müssen mir nicht jede Einzelheit erzählen, Chela, sagen sie mir nur das Wichtigste, und wenn es Ihnen recht ist, stelle ich mir den Rest dazu vor.
    Sehr wohl, Lizenziat. Jetzt haben sie gerade ein hübsches kleines Tuch rausgezogen und geben es weiter. Ich sag Bescheid, wenn etwas passiert.
    Wieder strecken sie die Beine ganz, ganz hoch. Ach nein, Verzeihung, das stellen Sie sich ja lieber selbst vor.
    Es ist als kokettierten die einen und dann die anderen miteinander, aber man kapiert nicht recht, wer zu wem gehört. Nach einem übermäßig langem Schweigen hub Chela wieder an: Das jetzt ist wirklich wichtig, das können Sie sich nicht vorstellen: Die beiden Männer sind gerade zu Boden gefallen, aber man hat den Aufprall gar nicht gehört, als wären sie leicht wie eine Feder. Atemberaubend.
    Die vier Figuren, die sich auf der Bühne ablösten, waren, wie ich schließen konnte, die vier Personen aus Othello. Diese vier geisterhaften Figuren waren mir sehr viel ähnlicher,so schien es mir, als die Sekretärinnen vom Konsulat, als die Inhaberin des Supermarkts, in dem ich meinen
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