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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco
Autoren: Richard Dübell
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Kaufmann zögerte sichtlich. Ich erwartete fast, ihn einen Rat suchenden Blick in unsere Richtung werfen zu sehen, aber er schien Manfridus und mich vergessen zu haben. Schließlich sank er in die Knie wie ein Verurteilter, der den Schwertstreich des Scharfrichters erwartet.
    Ein Teil des Tuches wurde zurückgeschlagen. Die Männer rings um uns stellten sich auf die Zehenspitzen, um etwas zu sehen. Ich selbst verzichtete auf den Anblick eines Gesichts, das zu einem Körper gehörte, der mindestens zwei Tage im Wasser gelegen hatte. Dandolo blickte auf das Brett hinunter, und seine Züge erstarrten.

2
    Während wir alle um den Leichnam herumstanden, spürte ich plötzlich das wohl bekannte sachte Zupfen an der Börse, beinahe zu sanft, um wahrgenommen zu werden. Ich griff nach hinten, bekam ein dünnes Handgelenk zu fassen und zerrte den dazugehörigen Menschen hinter meinem Rücken hervor. Mein Fang quiekte erschrocken. Ich hatte einen Jungen erwischt; als ich die Hand hob, mit der ich sein Gelenk umfasst hielt, lösten sich seine Beine vom Boden, und er baumelte vor mir in der Luft. Er war höchstens halb so groß wie ich und wog weniger als ein Vogel. Er starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an.
    »Lass den Unfug«, brummte ich, doch er begann schon zu zappeln und zu schreien: »Perdona, messère, perdoname, perdoname!«
    Manfridus drehte sich überrascht um, und auch die anderen Umstehenden wandten sich uns zu. Ich stand da mit meiner kläglichen Beute, deren Füße noch immer nicht den Boden berührten. Die ersten grimmigen Mienen waren zu erkennen. Ein Beutelschneider, ein Dieb, und sein potenzielles Opfer hatte ihn gefangen. Das neue Ereignis löste das alte ab, und Neugier verwandelte sich in Lust an der Gewalt. Ich hatte nicht nur einmal gesehen, was die wütende Menge mit einem ertappten Dieb anstellte, bevor die Stadtknechte Gelegenheit bekamen, ihn abzuführen.
    Der Junge starrte vor Schmutz. Er trug ein vielfach durchlöchertes Hemd, das ihm kaum über die Knie reichte, und darüber ein Wams, das ehemals aus Samt gewesen und nun so zerschlissen war, dass seine bloße Oberfläche nur da und dort ein Fleckchen Samtstoff aufwies und eher an das Fell eines räudigen Hundes erinnerte. Mit Ausnahme von Hemd und Wams war er nackt. Seine Füße waren ohne Schuhe und so schwarz, als sei er damit durch ein Kohlenlager gelaufen. Ähnlich schmutzig waren seine Arme, die nur bis zu den Ellbogen von seinem Hemd bedeckt wurden. Seine Fingernägel waren lang und abgesplittert, mit Rändern wie die Grabeschaufeln eines Maulwurfs. In seinem Gesicht lagen verschiedene Schichten von Schweiß, Essensresten, Straßenschmutz und Tränen, vielfach übereinander gelagert und wie eingebrannt in die Haut, umrahmt von Haaren, die ihm steif vom Kopf abstanden. Er war höchstens zehn Jahre alt, viel zu klein für sein Alter, und sein Antlitz war das eines alten Mannes. Er roch säuerlich nach ungewaschenem Körper und durchdringend nach Angst. Ich stellte ihn auf den Boden zurück.
    Der grauhaarige Mann wandte sich von Enrico Dandolo ab und schritt eilig herüber. Er musterte mich von oben bis unten. Der Junge drehte sich vorsichtig zu ihm um und zuckte zusammen, als sei er ihm bekannt. Der Mann betrachtete ihn mit steinernem Blick. Das Handgelenk des Jungen in meinem Griff fühlte sich so zerbrechlich an wie Glas. Ich ließ ihn los und trat beiseite.
    »Verschwinde«, sagte ich, »mach schnell. Sparisci, si? «
    Der Mann packte den Jungen am Genick, bevor dieser eine Bewegung machen konnte. Dann heftete er seinen Blick auf mich. Seine Augen waren dunkelbraun und tief vor Zorn.
    »Nicht so schnell«, sagte er zu meiner Überraschung nahezu akzentfrei. Michael Manfridus schob sich mit sorgenvoller Miene näher heran.
    »Was wollen Sie von dem Kleinen?«, fragte ich.
    »Das frage ich Sie.«
    »Er hat versucht, mich um meine Börse zu erleichtern.«
    »Keine große Überraschung.« Er schüttelte den Jungen, der erstarrt in seinem Griff hing wie ein Hase in der Pranke des Schlächters, und zischte ihm ein paar Brocken auf Venezianisch zu. Der Junge machte ein ängstliches Geräusch.
    »Ich lege keinen Wert darauf, ihn verhaften zu lassen. Mir ist nichts abhanden gekommen.«
    »Ich glaube nicht«, erwiderte der Mann mit kalter Förmlichkeit, »dass es in Ihrem Ermessen liegt, ob der Junge für seine Tat büßt oder nicht. Hier gelten die Gesetze der Serenissima, nicht die des Fondaco dei Tedeschi.«
    »Herr Bernward ist nur auf der
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