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Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)

Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)

Titel: Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
Autoren: Bernd Köstering
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1. Weimar, Theater-Café
     
    Alles begann an einem Mittwoch.
Es war der 24. Oktober 2007, der Tag der Wiedereröffnung des frisch renovierten
Rokokosaals der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Ganz Deutschland und viele
Kulturinteressierte aus aller Welt hatten auf diesen Tag gewartet, nachdem der
Brand drei Jahre zuvor große Anteilnahme ausgelöst hatte.
    Hanna
und ich waren stolz, an den Feierlichkeiten teilnehmen zu dürfen. Als wir im
Foyer des Grünen Schlosses – wie Anna Amalia es genannt hatte – zwischen all
den Ehrengästen standen und voller Vorfreude auf die Eröffnung warteten, ahnten
wir noch nichts von den Ereignissen am Abend dieses Tages. Und wir hatten keine
Vorstellung vom Innenleben des Reinhardt Liebrich.
    Mitten
im Gedränge des Sektempfangs kamen Benno Kessler und seine Ehefrau Sophie auf
uns zu. Mein Cousin Benno hatte als Weimarer Stadtrat für Kultur und Bildung
erheblich am Wiederaufbau des Grünen Schlosses mitgewirkt. Die beiden Frauen
begrüßten sich mit einer Umarmung. Sophies kinnlange, dunkle Haare und Hannas
Blondschopf bildeten dabei einen attraktiven Gegensatz. Die beiden waren schon
seit vielen Jahren befreundet. Somit hatte Sophie den Slalom der Liebe zwischen
Hanna und mir jederzeit mitbekommen. 1998 hatten wir unsere Jugendliebe
wiederentdeckt. Vor drei Jahren, nach einem fatalen Missverständnis und unserer
anschließenden persönlichen Wiedervereinigung, hatten wir schließlich
geheiratet. Es war ein schönes Gefühl, in einer Ehe verbunden zu sein, ein
Gefühl der Zusammengehörigkeit, auch ein wenig Stolz war dabei – und Freude.
Freude an einem Leben zu zweit.
    Unser
Gespräch wurde von einem grauhaarigen Mann unterbrochen, der statt des
Sektkelches ein Rotweinglas in der Hand hielt. Benno stellte ihn als Hubertus
von Wengler vor, den neuen Generalintendanten des Weimarer Nationaltheaters.
Das Auffälligste an seiner Erscheinung waren die buschigen Augenbrauen, die
mich unwillkürlich an den ehemaligen Finanzminister Theo Waigel erinnerten.
Herr von Wengler war kein Zauderer. Er kam sofort zum Punkt: »Ich freue mich,
Sie heute Abend zur Generalprobe des ›Clavigo‹ einladen zu dürfen. Anschließend
findet ein Gedankenaustausch im Theater-Café statt. Ich würde mich über einige
fundierte Meinungen zu Goethes Theaterstück freuen, besser gesagt, zu unserer
speziellen Inszenierung, und der Kulturdezernent sowie ein bekannter
Goetheexperte sind da die ideale Besetzung.« Er lächelte. Mit einem Blick zu
Hanna und Sophie ergänzte er: »Aufgrund des Clavigo-Themas bin ich sehr
gespannt, wie die Damenwelt darauf reagiert. Möglicherweise kommt sogar einer
meiner Schauspieler hinzu.«
    Nach
einer kurzen ehelichen Doppelabstimmung sagten wir zu und Hubertus von Wengler
zog weiter zur nächsten Stehparty.
    Hanna
und Sophie sahen mich fragend an. Ich verstand nicht. Na, was es denn mit dem
Clavigo-Thema auf sich habe, wollten sie wissen. Benno stieß mich mit dem
Ellenbogen an: »Du bist ja schon ziemlich abgehoben, wenn du quasi voraussetzt,
dass alle Menschen den ›Clavigo‹ kennen.«
    Gut,
gut, dachte ich, ein Freund durfte ab und zu die Wahrheit sagen, selbst wenn es
wehtat. Ich entschuldigte mich und sammelte meine Gedanken für eine
Kurzzusammenfassung. »Man stelle sich Madrid zu Goethes Zeiten vor. Clavigo ist
ein Mann, der als Archivarius für den spanischen König arbeitet. Die Position
des Archivarius war damals … na ja, wie soll man sagen … eine Mischung aus
Politiker und Journalist, teilweise sogar Schriftsteller. Er ist mit der aus
Frankreich emigrierten Marie Beaumarchais verlobt, doch sein Freund Carlos
überzeugt ihn, die Verlobung zu lösen, um in eine reiche spanische Familie
einzuheiraten und möglicherweise zum Minister aufzusteigen. Clavigo folgt dem
Rat seines Freundes, womit er Marie in eine tiefe Depression stürzt. Um Maries
Ehre zu retten, kommt ihr Bruder, im Stück einfach Beaumarchais genannt, aus
Frankreich und zwingt Clavigo, ein ehrenrühriges Dokument zu unterschreiben,
das ihm bei Veröffentlichung seine Karriere kosten würde. Clavigo bereut
daraufhin sein Verhalten und kehrt zu Marie zurück, die er immer noch liebt. In
einer Schlüsselszene redet Carlos so lange mit teils abstrusen, aber durchaus
überzeugenden Argumenten auf den charakterschwachen Clavigo ein, bis dieser
erneut seine Meinung ändert und Marie endgültig verlässt. Diese stirbt
daraufhin an ›Seelenpein‹, wie man damals sagte. Am Ende ersticht
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