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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco
Autoren: Richard Dübell
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Durchreise«, kam Manfridus zu Hilfe und vergaß in seiner Aufregung, dass er mit dem Mann auch in seiner Muttersprache reden konnte. »Er gehört nicht zum Fondaco.«
    »Was ändert das?«
    Der Junge versuchte die Hand abzuschütteln, was ihm beinahe gelang, doch der Grauhaarige fasste rasch nach. Sein Griff war nicht so fest gewesen, wie es den Anschein hatte. Er packte den Burschen an den knochigen Schultern und drehte ihn zu sich herum; dann ging er in die Hocke, bis ihre Augen auf gleicher Höhe waren. Der Junge fixierte ihn und wurde unter dem Schmutz in seinem Gesicht sichtbar bleicher. Der Mann brachte seinen Mund nahe an das Ohr seines Gefangenen. Von der Ferne sah es aus, als würde ein Vater seinem Sohn eine gut gemeinte Lektion erteilen. Doch das Lächeln des Mannes war ohne Wärme. Der Junge wagte nicht, sich zu rühren.
    »Der tedesco hat dich gerettet«, sagte der Mann so deutlich, dass selbst ich es verstand. »Für heute. Bedank dich bei ihm.«
    Er richtete sich auf und ließ den Jungen los. Die Umstehenden, die unsere Auseinandersetzung verfolgt hatten, atmeten enttäuscht ein. Der Junge starrte von ihm zu mir. Ich trat beiseite, und er schoss an mir vorbei und rannte über den Platz, so schnell ihn seine dürren Beine trugen. Ich rieb meine Handflächen aneinander. Wo sie ihn berührt hatten, spürte ich eine feuchte, schweißige Schmutzschicht.
    »Sie waren nicht halb so grob, wie Sie getan haben«, sagte ich.
    Der Mann zuckte mit den Schultern und sah mich ohne Freundlichkeit an. »Morgen versucht er es bei einem anderen, übermorgen wird er erwischt und so verprügelt, dass er nicht mehr gehen kann; in einer Woche ist er entweder erschlagen, erstochen oder ertränkt worden.«
    Er wandte sich ab und spähte zu Enrico Dandolo hinüber, der mit der Hand vor dem Mund und grünlichem Gesicht auf dem Boden kauerte. Mein Gegenüber straffte sich und kehrte zu ihm zurück, ohne mir noch einen Blick zu gönnen.
    »Wer war das?«, fragte ich Manfridus.
    »Einer von den Polizisten des Senats. Ich kenne seinen Namen nicht. Man muss die Sache ganz schön hoch hängen, wenn sich einer dieser Kerle einmischt. Im Allgemeinen ermitteln sie nur bei Hochverrat oder bei Dingen, die wichtige auswärtige Beziehungen betreffen. Das hier ist außergewöhnlich. Vielleicht liegt es daran, dass noch nie zuvor jemand ins Arsenal eingedrungen ist, selbst wenn er dafür sein Leben gelassen hat.«
    »Die Polizisten sind nicht beliebt?«
    Manfridus schüttelte den Kopf. »Der Volksmund nennt sie inquisitori . So benehmen sie sich auch; als hätten sie ihre Anweisungen direkt vom Papst und alle anderen seien Ketzer. In den letzten Jahren hat man ihre Befugnisse ziemlich ausgeweitet.«
    Dandolo richtete sich auf und taumelte zur Seite. Einer der Arsenalwächter fing ihn auf. Dandolos Brust hob und senkte sich, Tränen schimmerten in seinen Augen. Der Polizist sah ihn abwartend an.
    »Si« , hörte ich Dandolo erstickt sagen. »É mio nipote.«
    Der Polizist warf ihm ein paar Worte hin, die Dandolo zurückzucken ließen.
    »Macht er ihm jetzt Vorwürfe, dass sein Neffe im geheimsten Bereich Venedigs ertrunken ist?«, fragte ich verärgert.
    Manfridus schüttelte den Kopf. »Nein, er wollte von ihm wissen, woran er seinen Neffen erkannt hat. Die Leiche hat wohl kein Gesicht mehr – die Krebse und die Fische, Sie verstehen.« Er verstummte und kramte in seiner Tasche nach einer neuen Nuss. Er sah nicht weniger grün aus als kurz zuvor Dandolo.
    Dieser stotterte empört; der Polizist schnitt ihm das Wort ab.
    »Er will einen weiteren Zeugen haben, der den Toten identifiziert.«
    Der Kaufmann breitete die Arme aus und schüttelte den Kopf. Er machte den Eindruck eines Mannes, dem Unrecht widerfahren ist und dem man es mit noch größerem Unrecht vergilt. Er warf einen Blick zu uns herüber und deutete auf mich. Der Polizist folgte seinem Fingerzeig und verzog das Gesicht, bevor er uns zu sich heranwinkte. Die Zuschauer bildeten eine Gasse, und Manfridus und ich stapften hinüber. Mit gewisser Erleichterung sah ich, wie sich einer der Wächter des Arsenals bückte und das zerstörte Gesicht der Leiche wieder verhüllte.
    »Messèr Dandolo hat den Toten als seinen Neffen erkannt«, erklärte der Polizist ohne Einleitung. »Er sagt, er wollte Sie damit beauftragen, nach ihm zu suchen.«
    »Das ist übertrieben. Er wollte mich um Rat fragen, wie er seinen Neffen wiederfinden könnte. Wir hatten gerade begonnen, darüber zu reden, als
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