Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
Augen, und da war etwas, ich weiß nicht genau, was, einfach die Art, wie er mich anblickte, was mich dazu brachte zu sagen: »Ja.« Ich hatte wirklich das Gefühl, ich könne ihm glauben.
    »Und was ist mit Vater«, fragte Hirsch.
    Ich sagte, mein Vater sei alt und nicht gesund und dass er nicht mehr arbeite, seit er vor einigen Jahren einen Unfall gehabt habe.
    »Er krank?«
    »Nicht richtig krank«, sagte ich. »Aber … abgeschnitten.«
    Hirsch fragte, was das Wort bedeute.
    Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären sollte. »Nicht hier«, sagte ich. Und: »Nicht bei der Sache.« Aber was sagten die Worte schon über meinen Vater aus? Nichts.
    »Aha«, sagte Hirsch, fügte ein Wort auf Englisch hinzu und machte eine Bewegung, als spanne er ein Seil zwischen den Händen und schneide es durch.
    »Ja«, sagte ich und plötzlich erinnerte ich mich ganz deutlich, wie ich an meinem Vater hochgeklettert war und den Kopf auf die Stelle zwischen seiner Schulter und seinem Hals gelegt, seinen Geruch eingeatmet und gefühlt hatte, wie seine Bartstoppeln kratzten. Diese Erinnerung, die mir durch den Kopf fuhr wie ein plötzlicher Windstoß vom Fenster her, machte mich auf der Stelle traurig.
    Mit einer ganz lieben Stimme fragte Hirsch, ob er immer so sei.
    Ich sagte, nein, erst seit ein paar Jahren.
    »Wie viel«, fragte er.
    »Zweieinhalb, ungefähr«, antwortete ich. »Zwei Jahre und acht Monate.«
    »Und davor?«
    »Davor? Davor war alles anders.« Ich spürte, wie mir ein Kloß in die Kehle stieg.
    Er fragte, was passiert sei, wie, wann, warum.
    Und da, als ich seine Augen sah, die wirklich die Farbe eines Sommerhimmels hatten, konnte ich mich auf einmal nicht mehr beherrschen. Ohne viel nachzudenken erzählte ich ihm alles, wie es vorher gewesen war, wie alles zerbrach und wie es heute war. Ich erzählte ihm alles. Alles, was ich wusste. Von dem Unfall, der schwangeren Frau, ihrer kleinen Tochter, alles.
    Hirsch schaute mich an und ich wandte den Kopf zur Seite.
    »Du hast lieb deinen Vater«, sagte Hirsch.
    Ich nickte.
    »Dir ist schade, dass ihr keine Beziehung jetzt.«
    Ich sagte: »Ja, aber er will keine Beziehung. Ich interessiere ihn nicht.«
    »Nein«, sagte Hirsch. »So nicht. Ich bin sicher, auf ganze Welt ihn interessiert nichts so wie du. Nichts er liebt wie dich. Nur er sich selbst nicht liebt. Und das ist schwer. Du kannst ihm helfen.«
    Ich erinnerte mich an das, was meine Mutter vor zwei Tagen gesagt hatte, nämlich dass man Menschen nicht ändern könne und es auch nicht dürfe. Ich erzählte es Hirsch und fragte, was er darüber denke.
    »Ja«, sagte er nachdenklich. »Ist richtig. Aber das hier ist nicht so, wie sie sagt.«
    »Warum«, fragte ich.
    Mit ruhiger Stimme und in seinem seltsamen Hebräisch, das mir schon gar nicht mehr fremd klang, sagte er, hier gehe es nicht darum, einen Menschen zu ändern, sondern darum, einen Weg zu finden, um ihn wieder zu dem zu führen, was er vorher war. Es reiche schon, mich anzuschauen, sagte Hirsch, da wisse man gleich, dass mein Vater mich sehr geliebt habe und mich jetzt auch liebe, aber dass irgendetwas die Kommunikation gestört habe. Das alles sagte er in einem Mischmasch aus Hebräisch und Englisch, und ich weiß nicht, wie, aber ich verstand alles. Dass Menschen manchmal zerbrechen, und gerade wenn es gute Menschen sind, die sich zu Herzen nehmen, was andere einfach wegstecken, zerbrechen sie noch mehr. Er legte seine Hand aufs Herz und sagte, er sei ganz sicher, dass es meinen Vater zu einem glücklichen Menschen machen würde, wenn ich ihn in das einbezöge, was mit mir los sei.
    »Ein Kind braucht Vater«, sagte Hirsch. »Du kannst ihm helfen. Manchmal ein Kind muss helfen Vater.«
    Und ich, der ich als einer bekannt bin, der niemals weint, fing an zu weinen. Ja, ich heulte wie ein kleines Kind.
    Hirsch umarmte mich und wartete, bis ich mich beruhigt hatte. Erst dann sprach er weiter. »You see«, sagte er. »Jeder hat Geheimnis, was er nicht will sagen. Auch wenn du glauben, du kennst jemand ganz, bis zum Ende, du nie weißt alles über ihn. Jeder hat etwas, das er versteckt, so wie du. Manchmal wegen Angst und oft wegen Schämen.«
    Ich senkte den Kopf und schwieg. Er sagte noch einiges, von dem ich nicht alles verstand, aber den Schluss bekam ich wieder mit: »Ich möchte treffen deinen Vater«, sagte er und ich fing an zu zittern. Ich wollte ihm sagen, dass das nicht ginge, dass es unmöglich war, wieso denn, es wär meine Familie, nicht seine,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher