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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
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am ersten Tag getötet hatte. Das Mörderspiel ist nur so als ob. Einfach ein Spaß. Man tut niemandem was, es reicht, dass man jemandem sagt, er wär tot. Aber es gibt Leute, die machen anderen Angst. Vor allem in den höheren Klassen, wo manche Briefe mit schrecklichen Bildern schicken, mit Galgen und blutverschmierten Messern. Nimrod bekam in der siebten Klasse eine Puppe, in die an allen möglichen Stellen Nadeln gesteckt waren. Das sei eine Voodoopuppe, haben sie damals gesagt. Man steckt Nadeln an die Stellen, an denen das Opfer verletzt werden soll, sagt noch einen Fluch und dann stirbt der Betreffende. Nimrod wollte nie sagen, wer es gemacht hatte.
    Sobald ich vom Mörderspiel spreche, sagt meine Mutter, wenn sie nur ein bisschen Zeit hätte bei all ihren Schwierigkeiten und dem Einkaufen und der Arbeit, würde sie zur Direktorin gehen und ihr sagen, was sie von der Sache hält. Meine Mutter versteht was davon. Bevor mein Bruder Sohar auf die Welt kam, hat sie zwei Jahre Pädagogik studiert. Als ich groß genug war, wollte sie weiterstudieren, aber dann ist das Unglück passiert und sie ist nicht wieder an die Universität gegangen. Mein Vater hat aufgehört zu arbeiten und starrt nur immer vor sich hin, als warte er auf etwas, das nie kommt. Und meine Mutter arbeitet im Büro von Rechtsanwalt Friedberg, der meinem Vater geholfen hat, und nach der Arbeit hat sie immer noch viel zu erledigen. So habe ich beide verloren.
    Nachdem ich dem Jungen, der beim Mörderspiel log, den Kopf zurechtgerückt hatte, sagte ich zur ganzen Klasse, ich wäre so was Ähnliches wie Benjis großer Bruder, und wer ihn ärgert, wird es mit mir zu tun bekommen. Nicht dass mir so was Spaß macht, aber kleine Kinder haben Respekt vor Großen, so läuft das. Danach hat sich Benjis Verhältnis zu mir geändert. Die Erziehungsberaterin hat gesagt: »Jetzt hat er jemanden, dem er vertraut, und das ist lebenswichtig.« Und ausgerechnet jetzt, wo die Woche des Mörderspiels wieder angefangen hat, läuft er vor mir davon. Als hätte ich ihm etwas Böses angetan.
    Ich glaube, ich hänge an ihm, weil ich mir immer einen kleinen Bruder gewünscht habe.

    Von der Bushaltestelle machte ich mich auf den Weg zu Benjis Haus. Das ist ein langer und ermüdender Aufstieg. Nicht dass ich keine Kraft gehabt hätte, ich hatte genug, aber bei Chamsin, dem Wüstenwind, wird alles anstrengend. Schließlich stand ich vor dem grünen Tor und wartete, bis ich wieder richtig atmen konnte. Man könnte leicht über das Tor steigen, das zwar hoch ist, aber so hoch auch wieder nicht, außerdem hat es alle möglichen Ausbuchtungen, an denen man sich festhalten kann. Aber ich hörte hinter dem Tor den Teufel knurren (er heißt Devil, das bedeutet Teufel, auf Englisch), und ich wusste nicht, ob er angeleint war oder nicht.
    Ich drückte auf die Klingel neben dem Tor. Das Läuten hört man nicht bis draußen und kann leicht denken, sie hätte nicht funktioniert, und dann drückt man immer wieder. Das genau tat ich, obwohl ich wusste, dass die Klingel funktioniert. Ich drückte immer wieder drauf. Endlich, nach langer Zeit, summte das Tor und ging auf. Der Hund bellte wie verrückt und jemand – nicht Benji -sprach beruhigend mit ihm. Ich steckte meinen Kopf hinein und sah einen sehr großen Mann mit einem kahlen Kopf, wirklich ganz kahl, als hätte er sich alle Haare abrasiert. Der Mann betrachtete mich gründlich, dann fragte er: »Ja? Wer bist du?«
    Ich wusste nicht, was ich auf diese Frage antworten sollte, weil ich ja nicht wusste, wer er war. Schließlich sagte ich: »Ich bin Schabi, ein Freund von Benji.«
    »Ein Freund von Benji?« Der Mann machte ein erstauntes Gesicht. »Aber Benji ist in der Schule. Gehst du nicht in die Schule?« Er sprach langsam und mit amerikanischem Akzent. Ich hätte ihn gern gefragt, wer er war, aber ich traute mich nicht. Vielleicht war er Benjis Vater, den ich nie gesehen hatte? Er hatte tatsächlich auch so blaue Augen, nur waren sie nicht so groß wie Benjis. Ich sagte, wir hätten früher frei bekommen und ich hätte gedacht, Benji wär schon zu Hause.
    »Vielleicht ist er es ja auch«, sagte der Mann und fuhr sich über seine Glatze. »Kann sein, dass er gekommen ist, ohne dass ich ihn gesehen habe.« Er band den schwarzen Teufel, den er bisher am Halsband gehalten hatte, an die Kette und winkte mir, ihm zu folgen. Ich ging ins Haus, als wäre es das erste Mal. Meine Sorgen waren noch größer geworden, denn wenn Benji nicht zu
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