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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
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Hause war, wohin war er dann gegangen?
    Benjis Vater – er musste es sein – schrie ein paar Mal »Benji! Benji!« im Treppenhaus, dann rief er: »Jutta, dear!« Aber niemand antwortete ihm. Man hörte nur das Klirren der Hundekette von draußen. Der Mann sagte, ich solle warten und lief schnell die Treppe hinauf. Für einen älteren Mann lief er sogar sehr schnell, nahm zwei oder drei Stufen auf einmal. Ich hörte ihn an Benjis Tür klopfen, aber keine Antwort. Er kam zu mir zurück und sagte, Benji sei nicht zu Hause. »Möchtest du warten«, fragte er. »Vielleicht kommt er ja gleich.« Er bot mir sogar eine Cola aus dem Kühlschrank an.
    Ich nickte, nahm die Cola und trank. Ich war bereit zu warten, schon weil ich an den Rückweg dachte. Sogar bergab war es weit zur Haltestelle. Und vielleicht würde Benji ja kommen. Ich verstand einfach nicht, wohin er verschwunden war. Er kennt Ein-Kerem gar nicht, obwohl er hier wohnt. Er geht nur manchmal zum Felafel-Kiosk oder zum Lebensmittelgeschäft, und auch das nur, wenn der Kühlschrank völlig leer ist.
    Ich saß sehr lange auf dem weißen Sofa im Wohnzimmer. Da hatte ich noch nie gesessen und erst jetzt fielen mir die großen Bilder an den Wänden auf. Sie sahen alle so ähnlich aus wie die, die ich im Atelier von Benjis Mutter gesehen hatte. Ich schaute aus den großen Fenstern auf die Straße, die sich den Hang heraufwindet, und ich hörte die Glocken vom Kloster. Erst war es nur eine Glocke, dann kamen noch viele dazu. Ich betrachtete den Vorleger vor dem Seitenfenster, ein Bärenfell, an dem noch der ganze Kopf dran war, mitsamt Zähnen. Diesen Vorleger hatte ich schon gesehen. Benji hatte gesagt, sein Vater hätte den Bären selbst erlegt. Ich habe es nicht wirklich geglaubt. Schon lange hatte ich das Bärenmaul einmal anfassen wollen, obwohl es ein wenig gruselig war, aber noch nie hatte ich mich länger in diesem Zimmer aufgehalten. Und jetzt hatte ich Angst, der Mann könnte zurückkommen.
    Als das Glockenläuten aufhörte, war es ganz still. Nur die Vögel sangen. Der Hund bellte nicht. Ich hörte sogar die Fliegen summen und leise den Chor von oben, aus dem Arbeitszimmer von Benjis Mutter. Sie hörten offenbar nie auf zu singen, diese russischen Mönche. Schließlich sah ich ein, dass die Warterei sinnlos war. Ich hustete, um mich bemerkbar zu machen, und der Mann kam aus einem der Zimmer. Ich sagte, ich müsse jetzt gehen, zu Hause würden sie auf mich warten. Ich habe wirklich gesagt, sie würden auf mich warten, obwohl in Wirklichkeit niemand auf mich wartete. Der Mann sagte »Schade«, machte die Tür auf und fragte, ob er Benji etwas ausrichten solle. »Nichts«, sagte ich, »nur dass ich hier war. Sagen Sie ihm, Schabi wär da gewesen.«
    »Schabi«, sagte der Mann in einem Ton, als hätte er noch nie so einen Namen gehört.
    Erst als ich das Haus schon ein ganzes Stück hinter mir hatte, drehte ich mich um. In Benjis Zimmerfenster sah ich ein Gesicht. Ich war nicht sicher, ob es Benji war, aber bestimmt war dort jemand. Und wenn es nicht Benji war, wer denn sonst? Ich wollte zurücklaufen und nachschauen. Ich glaubte einfach nicht, dass der Mann mir nur vorgemacht hatte, Benji wär nicht zu Hause. Es war unvorstellbar, dass er mich ganz umsonst hatte so lange warten lassen. Aber er war doch oben gewesen, in Benjis Zimmer, und hatte gesagt, er sei nicht da. Wem gehörte dann dieses Gesicht? Benji, der sich nicht nur vor mir versteckt hatte, sondern auch vor diesem Mann? War er vielleicht eingesperrt worden? Und wenn es Benji war, warum sollte er sich dann vor mir verstecken? Schließlich war ich doch so was wie sein großer Bruder, das hatte er selbst neulich erst gesagt, als er beim Basketballtraining ein paar Mal hintereinander den Korb getroffen hatte. Er hatte mir einen Rippenstoß versetzt und gesagt: »Du bist mein großer Bruder. Du bist wie meine Brüder in Amerika.« Ich fühlte mich jetzt tatsächlich ein bisschen gekränkt, weil er sich vor mir versteckte, aber vor allem wunderte ich mich. Ich verstand nicht, was passiert war. Ich dachte, vielleicht muss ich etwas unternehmen, wusste aber nicht, was. Ich müsste es jemandem erzählen, überlegte ich, und wusste nicht, wem. Und wegen all der Dinge, die ich nicht wusste, lief ich langsam den Hang hinunter. An der Haltestelle setzte ich mich und zog meine Füße mitsamt den Turnschuhen auf die Bank. Ich wusste, dass es noch lange dauern würde, bis der nächste Bus kam.
    Vielleicht lag es an
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