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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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sie gestanden hatte. Der Brunnen war – und ist noch heute – von einem breiten, konischen Becken umgeben. Die Schlüssel waren auf dem Rand dieses Beckens gelandet und rutschten langsam auf die Mitte zu, wo sie mindestens hundert Meter tief hinunterfallen würden. Ich kletterte über die Mauer und griff fast tollkühn nach ihnen, um die Schlüssel noch zu erwischen, bevor sie für alle Zeiten verschwinden würden. Es waren zwei große, alte Schlüssel an einem Metallring.
    Nachdem ich von dem Bibliothekar erfahren hatte, daß Dr. Courtines Manuskript bis zu dem Nachweis versiegelt bleiben würde, daß die zweite Person auf der Liste tot sei, dachte ich angestrengt darüber nach, was ich unternehmen könnte. Und dann verfiel ich auf den Gedanken, daß leidenschaftliche Liebe zur Musik vermutlich etwas sehr Dauerhaftes war. Ich überredete einen Freund – einen nicht gänzlich unbekannten Komponisten –, mir zu gestatten, einen Brief in seinem Namen zu schreiben, den ich dann an alle Musikverlage und sämtliche Fachgeschäfte für Noten verschickte. Der wesentliche Teil des Briefes lautete wie folgt:
    Vor etwa acht Jahren lernte ich einen Herrn kennen, der eine ausgeprägte Liebe und ein profundes Wissen über die Orgel und alle für dieses Instrument geschriebene Musik besaß. Als er meinen Namen hörte, war er so freundlich, mir zu sagen, daß er meine Kompositionen kenne und bewundere, obwohl ich, wie Sie sicher wissen, bislang ausschließlich Klaviermusik geschrieben hatte. Als ich jedoch erwähnte, daß ich die Absicht hätte, ein Stück für die Orgel zu komponieren, drängte er mich, dies auch wirklich zu tun und ihm die Partitur zuzuschicken, sobald ich damit fertig sei. Nun hat es zwar viele Jahre lang gedauert, aber meine ›Phantasie in A-Dur‹ für die Orgel steht kurz vor ihrer Vollendung.
    Leider habe ich nun den Zettel verlegt, auf dem ich den Namen und die Adresse des Herrn notiert hatte, die, soweit ich mich erinnern kann, in Rom oder vielleicht auch in Neapel war. Ich wende mich jetzt an Sie, weil der Herr erwähnt hatte, daß er sich, wenn er sich auf dem Kontinent aufhalte, Partituren von Ihrer Firma zusenden lasse.
    Dummerweise bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich seinen Namen richtig im Gedächtnis behalten habe. Soweit ich mich erinnere, lautete sein Familienname Butler Ormonde oder vielleicht auch Ormonde de Burgh. Und sein Vorname war, glaube ich, Martin, oder vielleicht auch Valentine.
    Die Familiennamen waren natürlich die der angeblichen Verwandten des Liebhabers von »Mrs. Stonex«. Meine kleine Kriegslist hatte Erfolg. Einer der Verlage schrieb mir folgendes zurück:
    Wir nehmen an, daß Sie Mr. Ormonde Martin meinen, einen Herrn, der jahrelang regelmäßig Partituren für die Orgel bei uns gekauft hat. Leider müssen wir Ihnen jedoch mitteilen, daß er vor drei Jahren verstorben ist, wie wir erfuhren, als die letzte Sendung mit Partituren, die wir ihm nach Florenz geschickt hatten, mit kriegsbedingter Verspätung von einem Rechtsanwalt, der mit seinen Erbangelegenheiten betraut war, zurückgesandt wurde.
    Er hatte also noch gelebt, als Miss Napier die Recherchen für ihr Buch angestellt hatte, war jedoch schon zwei Jahre lang tot gewesen, als ich meinen Besuch bei seiner Mutter machte. Ort und Datum seines Todes in Erfahrung zu bringen und vom britischen Konsul in Florenz das entsprechende Dokument anzufordern, war nur noch eine Formalität. Von ihm erfuhr ich bei dieser Gelegenheit auch, daß »Mr. Ormonde Martin« während der letzten fünfunddreißig Jahre seines Daseins in Italien das Leben – das ziemlich skandalöse Leben – eines reichen Müßiggängers geführt hatte.
    Nachdem ich die Schlüssel aus dem Brunnenbecken geholt hatte, ging ich in das Schulzimmer zurück, versteckte sie in meinem Schrank und wartete darauf, zur Bestrafung zum Schulleiter gerufen zu werden. An diesem Tag geschah jedoch nichts mehr, weil die Nachricht vom Mord an dem alten Herrn den Schulleiter von meinem Vergehen abgelenkt hatte; und am nächsten Tag mußte er bei der gerichtlichen Untersuchung aussagen. Ich hoffte glühend, daß die schrecklichen Ereignisse meine Missetaten aus seiner Erinnerung gelöscht hätten. Am Donnerstag abend und den ganzen folgenden Tag lang quälte ich mich mit der Frage herum, ob ich jemandem sagen müßte, was ich wußte, aber ich fürchtete mich zuzugeben, daß ich mich mit Mr. Stonex angefreundet hatte und zum Tee bei ihm zu Gast gewesen war, vor allem aber,
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