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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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noch lebte. Über den Verbleib des Mannes jedoch, den sie nicht nennen durfte und deshalb nur als den »Erzverschwörer« bezeichnete – und der, ebenso wie Fickling, unmittelbar nach dem Mord spurlos verschwunden war, hatte sie keine Informationen.
    Dieser Mann, so argumentierte sie, hatte Fickling in die Verschwörung mit hineingezogen. Da die Verschwörer einen Verdächtigen brauchten, dem sie den Mord in die Schuhe schieben konnten, wurde Perkins mit Hilfe der Nachricht auf der Tafel dazu gebracht, sich verdächtig zu machen, ein Verbrechen begangen zu haben, von dem er nichts wußte. Außerdem brauchten sie einen angesehenen und glaubwürdigen Zeugen, der gegen ihn aussagen sollte, und so wurde, wie Miss Napier darlegte, Dr. Courtine, der vollkommen ahnungslos und unschuldig war, mit in die Affäre hineingezogen.
    Miss Napier war übrigens auch auf eine Spur des Erzverschwörers gestoßen, die bewies, daß er noch lebte und jetzt etwa Mitte Siebzig war. Sie hatte von jemandem, der ihn vor Jahren gekannt hatte, erfahren, daß er neuerdings in Neapel gesehen worden sei.
    Ich begriff sofort, wer mit der Bezeichnung »Erzverschwörer« gemeint war, und als ich Dr. Courtines Begleitbrief erhielt, in dem die beiden Verdächtigen genannt waren, fand ich bestätigt, daß ich recht hatte. Da ich darauf brannte, den Bericht zu lesen, machte ich mich sofort daran herauszufinden, ob diese Person noch am Leben war oder nicht. Das Ergebnis meiner Bemühungen war, daß vor nunmehr zwei Monaten, nachdem die alte Dame rund sechs Monate nach meinem enttäuschenden, aber letztendlich doch erfolgreichen Besuch gestorben war, der Präsident, die Fellows und ich als einziger Außenstehender im Konferenzraum des College zusammenkamen, der Bibliothekar das Siegel erbrach und Dr. Courtines Bericht vorlas.
    Eines der Rätsel, die Miss Napier zu lösen versucht hatte, war, wie der Mörder ins Haus hatte gelangen können, da Mr. Stonex die Tür ja nur für Mrs. Bubbosh und den Kellner öffnete, und das auch nur zu den Zeiten, wenn er sie erwartete. Miss Napiers geniale Antwort lautete, daß der Mörder ein oder zwei Minuten vor dem Zeitpunkt an die Tür klopfte, zu dem Perkins hätte kommen sollen, der um halb sechs erwartet wurde, und daß das Opfer ihm die Tür in der Meinung öffnete, es sei der Kellner. Was eine mögliche Lösung des Problems wäre.
    Ebenso wurde das Rätsel, wie und wann der Mörder das Haus verlassen hatte, durch Miss Napiers erstaunliche Hypothese erklärt, er sei als Frau verkleidet entkommen und möglicherweise die Dame gewesen, die der Schulleiter Appleton etwa zwanzig Minuten vor sechs auf der Rückseite des Hauses getroffen habe und die ihn, als er nach mir suchte, zur Vordertür geschickt habe.
    Tatsächlich sind beide Lösungsversuche falsch, so genial sie auch die bekannten Tatsachen verknüpfen, doch kommen beide der Wahrheit sehr nahe. Die Dame, die Appleton traf, war mit Sicherheit wirklich eine Frau; und Mr. Stonex konnte seinen Mörder auch nicht um halb sechs Uhr einlassen, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Aber Miss Napier hatte richtig erraten, auf welche Weise der Mörder ins Haus gelangt war, und hatte auch recht mit der Annahme, daß die Person, die vom Schulleiter gesehen worden war, einen Vertreter des anderen Geschlechts dargestellt hatte.
    Nachdem ich den ganzen Tag lang über mein Unglück nachgebrütet hatte, faßte ich am Ende des Nachmittagsunterrichts einen plötzlichen Entschluß: Ich würde nicht nur die Chorprobe schwänzen, sondern auch dem Abendgottesdienst fernbleiben. So etwas hatte ich noch nie getan, und ich konnte mir nicht vorstellen, welche Folgen ein derartiges Vergehen nach sich ziehen würde. Aber diese Folgen erschienen mir weniger schlimm als die sichere Aussicht auf die Demütigungen, die mir bevorstanden, wenn ich teilnahm.
    Ich redete mir also ein, daß Mr. Stonex mich tatsächlich eingeladen hätte, ihn am Nachmittag zu besuchen, um den neuen Atlas zu bewundern. Und ohne daß ich wirklich den Entschluß gefaßt hätte dorthinzugehen, fand ich mich auf einmal vor der Straßentür des neuen Dekanats wieder.
    Es war zwischen neun und elf Minuten nach vier. Das weiß ich ganz genau, denn der Unterricht endete um Viertel vor vier, und ich mußte die ganze Zeit daran denken, wie die anderen Jungen jetzt zur Chorprobe gingen und der Chorleiter prüfte, ob alle anwesend waren. Ich konnte mir genau den Augenblick ausrechnen, zu dem er feststellen würde, daß ich
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