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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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draußen in der Dunkelheit und Kälte zu stehen.
    Kurz vor fünf, als die Probe zu Ende war, sah ich Appleton zum Abendgottesdienst eintreffen, und ich beobachtete, wie der Chorleiter ihn beiseite nahm. Das Gesicht des Schulleiters lief rot an, und ich nahm an, daß sie über mich redeten. Mein Gefühl, nicht dazuzugehören, verflog. Und als ich Appleton zur Tür gehen sah, war ich mir sicher, daß er mich suchen wollte. Plötzlich hatte ich den Einfall, daß die beste Methode, nicht von ihm gesehen zu werden, darin bestand, ihm zu folgen.
    Mehr als eine halbe Stunde lang lief ich hinter ihm durch die immer dunkler werdenden Straßen. Das Spiel begann mir Spaß zu machen. Aber dennoch wurde ich von einer wachsenden Furcht vor den Folgen erfaßt, denn irgendwann würde ich mich ihm stellen und die Prügel über mich ergehen lassen müssen. Etwa um zwanzig Minuten nach fünf ging Appleton gerade durch die St. Mary’s Street, als er den freundlichen jungen Mann traf, der in der Bibliothek des Domkapitels arbeitete. Ich konnte nicht hören, was sie miteinander sprachen, aber später reimte ich mir zusammen, daß Mr. Quitregard ohne jede böse Absicht erwähnt haben mußte, daß er mich an diesem Morgen im Gespräch mit Mr. Stonex gesehen hatte, und daß das der Grund war, warum Appleton seine Schritte eilig auf den Domplatz lenkte. Kurz nach halb fünf ging ich im Abstand von vielleicht fünfzehn Metern hinter dem Schulleiter an der Rückseite des neuen Dekanats vorbei. Wir konnten Dr. Courtine und Austin Fickling, die das Haus durch die Hintertür verlassen hatten, höchstens um zwei oder drei Minuten verfehlt haben.
    Ich befand mich gerade in Höhe der Hintertür, als Appleton sich plötzlich umdrehte, so daß ich mich gegen das Tor drücken mußte, damit er mich nicht sah. Ich hatte entsetzliche Angst, daß er den gleichen Weg zurückkommen könnte, denn dann mußte er mich unweigerlich entdecken; aber er hatte Schritte nur hinter sich gehört. Es war eine alte Dame. Er sprach sie an und fragte – wie er später bei der gerichtlichen Untersuchung aussagte –, ob sie mich gesehen habe. Sie erwiderte, ich könnte vielleicht an der Vordertür sein. Ich konnte natürlich nicht hören, was sie miteinander redeten, aber zu meiner großen Erleichterung ging er durch die Nebenstraße und fand dort, wie er vor Gericht aussagte, nicht mich, sondern den Kellner Perkins, der gerade an die Tür klopfte. (Ich glaube, daß die Frau Appleton dorthin schickte, damit er ihn sehen sollte.)
    Was Appleton nicht bemerkt hatte, was aber ich, der ich einige Meter hinter ihm ging, gesehen hatte, war, daß die alte Dame aus der Hintertür des neuen Dekanats gekommen war!
    Miss Napier hatte erraten, daß die alte Frau bei dem Rätsel eine entscheidende Rolle gespielt haben mußte, und hatte eine ganze Reihe von Informationen zusammengetragen, die nötig waren, um auf die Lösung zu kommen; aber sie hatte einige Teile des Puzzlespiels falsch angeordnet und andere nicht gefunden. Beispielsweise konnte sie sich nicht erklären, warum man das Gesicht des Opfers so abscheulich zugerichtet hatte. Ihr entscheidender Fehler war jedoch, daß sie die Überzeugung des Arztes, daß der Ermordete viel früher gestorben war, als zu den anderen Tatsachen zu passen schien, in ihrem Bericht vernachlässigte. Und es war ganz unmöglich, daß der Mörder um zwanzig vor sechs gegangen war – dem Zeitpunkt, zu dem Appleton und ich die Frau sahen –, wenn der Täter erst zehn Minuten zuvor in das Haus eingedrungen war, wie Miss Napier annahm. Dann hätte der Mörder nicht die Zeit gehabt, das Gesicht des Opfers zu zerschmettern (und sich dabei irgendwie davor zu schützen, mit Blut bespritzt zu werden) sowie das Haus auf der Suche nach dem Testament zu verwüsten.
    Als ich sah, daß die Dame aus dem neuen Dekanat kam, wurde ich neugierig, weil ich wußte, was für ein einsames und genau geregeltes Leben der alte Herr führte und weil das Haus noch vor einer Stunde vollkommen still gewesen war. Also hörte ich auf, hinter dem Schulleiter herzulaufen, und folgte statt dessen der Frau. Sie ging die wenigen Meter bis zu der Tür, die in den Kreuzgang führte, und verschwand. Ich eilte ihr nach und beobachtete im Schutz der zunehmenden Dunkelheit, wie sie sich über die Steinmauer beugte, die den Kreuzgang vom alten Brunnen des heiligen Wulflac trennte, und etwas hinüberwarf. Dann eilte sie rasch zur Seitentür der Kathedrale und trat ein. Ich hastete dorthin, wo
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