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Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod - Svalan, katten, rosen, döden

Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod - Svalan, katten, rosen, döden

Titel: Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod - Svalan, katten, rosen, döden
Autoren: Håkan Nesser
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warmen Augen, die ein wenig an die ihres Vaters erinnerten.
    Und dann hatte er eine nette Stimme, das war vielleicht das Wichtigste. Ja, wenn sie darüber nachdachte, dann war klar, dass sie die Menschen fast immer danach beurteilte.
    Nach ihrer Stimme. Und nach dem Handschlag. Dabei konnte man nicht lügen, wahrscheinlich hatte sie so etwas einmal vor langer, langer Zeit in irgendeiner Mädchenzeitschrift gelesen, aber das spielte keine Rolle. Es stimmte, das war die Hauptsache. Man konnte mit so vielem anderen lügen: mit den Lippen, den Augen und den Gesten.
    Aber nie mit der Stimme und der Art, wie man jemandem die Hand gab.
    Und was ihn betraf, so harmonierten diese beiden Charakterzüge auch noch außergewöhnlich gut: eine ruhige, dunkle Stimme, durch die die Worte ihr richtiges Gewicht bekamen – und eine Hand, die groß und warm war und weder zu hart zudrückte, noch das Gefühl hinterließ, sie wolle sich lieber zurückziehen. Es war fast ein Genuss, ihm die Hand zu geben.
    Sie lachte leise über sich selbst und richtete dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Einkaufsliste. Was für ein Menschenkenner man doch ist, dachte sie. Schließlich habe ich ihn alles in allem nicht viel mehr als zehn Minuten lang gesehen. Ich sollte Psychologin oder so was werden.
    Während sie das Essen zubereitete, grübelte sie wie üblich über die EINSAMKEIT nach. Mit großen Buchstaben, so sah sie es oft vor sich geschrieben. Wahrscheinlich, um dem Wort noch mehr Würde zu verleihen.
    Ob es möglich wäre, sie zu durchbrechen, nachdem sie jetzt in einer neuen Klasse im Gymnasium angefangen hatte, oder ob es wieder genau das Gleiche werden würde. Die EINSAMKEIT, ihr einziger treuer Begleiter.
    Ob sie sich wohl auch weiterhin nie trauen würde, Freunde mit nach Hause zu bringen. Mit einer Mutter, die ihre Tochter und sich selbst unmöglich machte, sobald ein fremder Mensch über die Türschwelle trat.
    Oder jedenfalls die Gefahr dafür bot. Die mitten am helllichten Nachmittag unter einer Decke auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen konnte – mit einem Fleischmesser und einer Schachtel Schlaftabletten neben sich, lauthals fordernd, ihre Tochter solle ihr dabei helfen, sich das Leben zu nehmen.
    Oder die in halb totem Zustand in ihrer eigenen Kotze in der Badewanne schwamm, zwei leere Weinflaschen vor sich auf dem Boden.
    Oder die aufgekratzt wie sonst was den zwölfjährigen Mädchen zeigen wollte, wie man auf die effektivste Art onanierte. Da die Sexualkunde in den Schulen ja sowieso nichts tauge.
    Nein, dachte sie. Nein, nicht länger als drei Jahre, ich darf nicht auch so werden.
    Und die Männer. Kerle, die kamen und gingen, jedes Mal während der manischen Wochen im Herbst und im Frühjahr, einer schlimmer als der andere und nie jemand, der öfter als drei oder vier Mal kam. Wie gesagt.
    Abgesehen von Henry Schitt – der behauptete, Schriftsteller zu sein und vier Wochen lang den ganzen Tag über Haschisch auf der Toilette oder draußen auf dem Balkon rauchte, bis sie all ihren Mut zusammennahm und Tante Barbara in Chadow anrief.
    Tante Barbara hatte natürlich nicht persönlich eingegriffen, das tat sie nie. Aber sie hatte dafür gesorgt, dass zwei Sozialarbeiter kamen und Henry rauswarfen. Und dass ihre Schwester für ein paar Stunden ärztliche Betreuung bekam.
    Und eine neue Dosierung an Medikamenten.
    Das war im Frühling vor anderthalb Jahren gewesen, und es war schon möglich, dass es danach etwas besser geworden war. Zumindest solange die Medizin nicht unangerührt im Badezimmerschrank stand, nur weil ihre Mutter sich viel zu gesund fühlte, um sie noch länger zu nehmen.
    Und jetzt dieser Benjamin Kerran.
    Wenn sie an ihn dachte, dachte sie auch, dass es das erste Mal während all dieser Jahre war, dass sie nicht den Schrei nach ihrem Vater in ihrer Brust hörte. Diesen verzweifelten Schrei aus einem verzweifelten Körper.
    Benjamin? Das Einzige, was sie eigentlich an ihm auszusetzen hatte, war der Name. Er war viel zu groß, um Benjamin zu heißen. Und kräftig und warm und lebendig. Ein Benjamin, das sollte so ein kleiner Schmächtiger sein mit schmutziger Brille und einem Gesicht voller Pickel und Mitesser. Und schlechtem Atem, genau wie der Benjamin Kuhnpomp, mit dem sie ein Jahr lang in die gleiche Klasse gegangen war, in der Fünften, und der danach wohl zum Urbild für alle Benjamine auf der ganzen Welt geworden war.
    Jetzt stand sie also hier und machte das Essen für einen ganz anderen Benjamin.
    Einen,
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