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Die Schuld einer Mutter

Die Schuld einer Mutter

Titel: Die Schuld einer Mutter
Autoren: Paula Daly
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sich Vorhaltungen zu machen wegen der Minuten, die bereits vergeudet wurden – als sie schon hätten merken müssen, dass irgendetwas schieflief, dass irgendetwas nicht stimmte, dass das Universum flüsterte: Hier braut sich was zusammen.
    Die Frau bedeutet Joanne mit einer Geste, am Ende des breiten Korridors rechts abzubiegen. Joanne tritt sich die Schuhe ab und schaut sich in der Vorhalle um: gedämpfte Farben von Farrow & Ball, auf der Treppe Seegrasmatten, darüber geschmackvoll angeordnete Schwarz-Weiß-Fotografien der Kinder. Joanne entdeckt eine kleine Ballerina von etwa fünf Jahren, die eine Beuteltasche und Tulpen in der Hand hält. Das muss Lucinda sein.
    Im Raum am Ende des Korridors drängeln sich die Menschen – auch das ist in Momenten wie diesem normal. Sofort stehen sie alle vor der Tür. Alle Angehörigen, alle Freunde. Die Leute treffen sich, um zusammen zu sein, um gemeinsam zu warten.
    Joanne hat sich längst daran gewöhnt. An die erwartungsvollen, ratlosen Gesichter. Wer ist die Frau im schwarzen Parka? Was will sie hier?
    »Ich bin Detective Constable Aspinall«, stellt Joanne sich vor.
    Es ist fast immer besser, den vollen Titel zu nennen und nicht bloß die Abkürzung »DC«. Vor allem die Frauen wissen oft nichts damit anzufangen. Sobald der Normalbürger vor einer Polizistin in Zivil steht, weiß er nicht mehr weiter.
    Ist sie gekommen, um die Familie zu trösten? Will sie Tee kochen? Ist sie die Opferschutzbeauftragte? Ist das ihr Job? Ist sie überhaupt eine richtige Polizistin?
    Die Leute sind sich nicht sicher. Es ist das Beste, ihnen von vornherein zu sagen, wer sie ist und was sie will.
    Alle Blicke wandern von Joanne zu einer gebrochen wirkenden Blondine, die in der Mitte des knautschigen taupefarbenen Sofas sitzt.
    Dieser Raum wird wohl von den Kindern genutzt; hier stehen die ganzen ausrangierten Möbel herum, lauter Kram, den niemand mehr braucht. Niemand regt sich auf, wenn hier Getränke verschüttet werden oder mit Filzstiften herumgeschmiert wird.
    In der Ecke steht ein fast neuer Fernseher, darunter ein Stapel Spielkonsolen: PlayStation, Wii, Xbox. Joanne kennt die Namen der Geräte, die sie aber nicht voneinander unterscheiden könnte. Sie hat keine Kinder.
    Die Blondine will aufstehen, aber Joanne sagt: »Bitte, bleiben Sie sitzen. Sind Sie Mrs Riverty?«
    Die Blondine nickt, ganz schwach, und verschüttet dabei Tee. Sie gibt den Becher an ihren Sitznachbarn weiter.
    Joanne nimmt den Mann in Augenschein. »Mr Riverty?«
    »Bitte nennen Sie mich Guy«, antwortet er und versucht zu lächeln, aber heute gehorcht ihm seine Mimik nicht.
    Er steht auf. Sein Blick ist gequält, sein Gesicht voller Kummer. »Sind Sie gekommen, um uns zu helfen?«, fragt er, und Joanne antwortet: »Ja.«
    Ja, deswegen ist sie hier. Joanne ist gekommen, um zu helfen.
    Nun wird also zum zweiten Mal ein Mädchen vermisst. Nur deswegen hat man Joanne sofort hergeschickt. Wäre Lucinda das erste Opfer gewesen, hätten ein paar Kollegen in Uniform die Ermittlungen übernommen. Aber Joannes Abteilung arbeitet in diesem Fall mit Lancashire zusammen; nach einer Reihe vereitelter Kindesentführungen im Süden der Region herrscht überall Alarmstimmung.
    Vor zwei Wochen verschwand ein junges Mädchen aus Silverdale, einem Ort an der Grenze zwischen Cumbria und Lancashire.
    Molly Rigg. Noch ein Mädchen, das viel jünger aussieht, als es tatsächlich ist. Noch ein Mädchen, das niemals hätte verschwinden dürfen , wie Joannes Chef es ausdrückte.
    Molly Rigg tauchte am späten Nachmittag desselben Tages wieder auf. Zwanzig Meilen von ihrem Elternhaus entfernt stand sie plötzlich in einem Reisebüro in Bowness-on-Windermere.
    Der Novemberregen klatschte an die Fensterscheiben, und das Büro war überfüllt mit Menschen, die der Tristesse entkommen wollten, mit einer All-inclusive-Reise in die Dominikanische Republik zum Beispiel. Joanne hatte das Plakat im Fenster gesehen: dreihundertfünfundfünfzig Pfund pro Person (Markenspirituosen nicht im Preis inbegriffen).
    Molly war halb nackt und wusste offenbar nicht, wo sie war. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Stadt sie sich befand. Sie hatte sich für das Reisebüro entschieden, weil sie dachte, die Angestellten würden bestimmt »nett« zu ihr sein.
    Was sie auch waren.
    Der Geschäftsführer komplimentierte alle Kunden möglichst diskret hinaus, während seine Angestellten, zwei lebensgroße Barbiepuppen, das Kind mit einer Auswahl eigener
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