Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schoene Luegnerin

Die schoene Luegnerin

Titel: Die schoene Luegnerin
Autoren: Jude Deveraux
Vom Netzwerk:
hatte ein so seltsames Gefühl in ihr hervorgerufen — keine einzige. Nicht in ihren kühnsten Phantasien hätte sie sich jemals ausgemalt, eines Tages ihre Familie zu verlassen und in den Westen zu gehen, um einen der Männer, die eine Braut suchten, zu heiraten. Aber dieser Mann war etwas Besonderes, die Familie war etwas Besonderes. Es war ihre Familie, und sie brauchten sie.
    Sie verbrachte den ganzen Tag in dem Bootshaus, saß auf dem staubigen Holzsitz eines Kanus, starrte das Foto an oder ging rastlos auf und ab. Nach einiger Zeit hängte sie das Bild an die Wand, trat einen Schritt zurück und sah es sich noch einmal ganz genau an. Sie versuchte herauszufinden, was sie an dem Mann und seinen Kindern so sehr fesselte. Sie bemühte sich, sachliche und nüchterne Überlegungen anzustellen, aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie kam zu keinem Ergebnis.
    Zweimal nahm sie sich vor, den Mann zu vergessen, und sie redete sich ein, daß dieser intensive Blick nur von der Beleuchtung, die der Fotograf benutzt hatte, hervorgerufen worden war. Oder vielleicht gab es einen anderen Grund für die Traurigkeit, die sie zu erkennen glaubte. Möglicherweise war der Hund der Kinder an diesem Tag gestorben, und sie wirkten deshalb so verloren und einsam.
    Etwa um vier Uhr wurde Choo-choo unruhig, und Carrie merkte, daß sie Hunger hatte. Kurze Zeit später kam ein alter Werftarbeiter in das Bootshaus.
    »Entschuldigung, Miss. Oh, Sie sind’s, Miss Carrie. «
    Carrie nickte zur Begrüßung und bat den alten Mann mit einer Geste, zu ihr zu kommen. »Sehen Sie sich dieses Bild an«, forderte sie ihn auf und deutete auf das Foto an der Wand. »Was sehen Sie auf diesem Bild? «
    Der Mann studierte die Aufnahme aufmerksam und blinzelte. Carrie nahm sie von der Wand, so daß der Alte sie mit zum Fenster nehmen konnte, wo das Licht besser war. Carrie merkte, daß er ihre Frage sehr ernst nahm, und als er sich schließlich zu ihr umdrehte, sagte er: »Eine hübsche Familie. «
    »Sehen Sie sonst noch etwas? « drängte sie.
    Der Mann wirkte ein wenig verwirrt. »Ich kann nichts weiter erkennen. Sie sehen nicht gerade wie reiche Leute aus, aber vielleicht machen sie harte Zeiten durch. «
    Carrie runzelte die Stirn. »Sehen sie nicht... na ja, erscheinen sie Ihnen nicht sehr traurig? «
    Der Mann sah sie überrascht an. »Traurig? Aber sie lächeln doch alle. «
    Jetzt war Carrie ebenso überrascht wie der alte Mann. Sie nahm ihm das Foto ab und schaute es noch einmal an. Sie hätte geschworen, daß es für sie auf dem Bild nichts Neues mehr zu entdecken gab, aber jetzt sah sie es in einem anderen Licht. Die drei Personen auf dem Bild lächelten tatsächlich, aber wenn sie lächelten, wie war sie dann auf die Idee gekommen, sie könnten traurig sein? Der Junge hatte den Arm um seine Schwester geschlungen, und der Vater hatte je eine Hand auf die Schultern seiner Kinder gelegt. Wie konnten sie einsam sein, wenn sie sich hatten?
    Carrie warf dem alten Mann einen Blick zu. »Sie sehen nicht einsam oder traurig aus? «
    »Ich finde, sie sehen beinahe glücklich aus, aber was weiß ich schon von solchen Sachen? « Er schmunzelte. »Ich vermute, wenn Sie wollen, daß sie traurig sind, Miss Carrie, dann sind sie es auch. «
    Carrie lächelte ihm zu, als er mit einem Finger an seine Mütze tippte und das Bootshaus verließ.
    Nicht traurig oder einsam, dachte Carrie. Andere Menschen sahen eine glückliche, lächelnde Familie, aber Carrie konnte das beim besten Willen nicht erkennen. So sehr sie sich auch anstrengte, sie fand nicht heraus, weshalb sie sie für traurig hielt und was an dieser Familie ihr Herz so sehr anrührte, daß sie meinte, sie würden sie um etwas anflehen.
    Sie blieb noch ein paar Minuten im Bootshaus, dann hob sie Choo-choo hoch und ging nach Hause. An diesem Abend sollte ein festliches Abendessen zu Ehren ihres Bruders Jamie stattfinden, und all ihre Montgomery- und Taggert-Verwandten wurden erwartet. Zum Glück war das Haus so voll von Menschen, daß niemandem auffiel, wie unnatürlich ruhig Carrie war.
    Carrie blieb auch in den nächsten drei Tagen ziemlich still. Ihr Alltag verlief wie immer - sie ging jeden Vormittag in das alte Johnson-Haus, begutachtete die Fotografien und die eingegangenen Briefe und befragte die Frauen, die sich bei ihnen gemeldet hatten. Sie bemühte sich während der ganzen Zeit, niemandem zu zeigen, daß sie in Gedanken immer bei der Familie auf dem Foto war.
    Sie betrachtete die Aufnahme
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher