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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars
Autoren: Frank W. Haubold
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vollgestopften Raumes beim Sterben zusah. Ihre Augen standen offen, das konnte er sehen, aber er wußte, daß das Leuchten darin erloschen war.
    Der Junge war weder ein Verwandter noch volljährig, und eigentlich hätten ihn die Schwestern wegschicken müssen, aber das brachten sie nicht übers Herz. Sie wußten, daß es nicht mehr lange dauern würde.
    »Es tut mir leid«, sagte der Stationsarzt den fassungslosen Eltern, als man die Maschinen abgeschaltet hatte, »aber ich glaube fast, daß ihre Tochter so nicht weiterleben wollte.«
    Julius war überzeugt davon, daß der Arzt recht hatte.
    Nach Hause zurückgekehrt, schloß er sich in sein Zimmer ein, ohne auf die Vorhaltungen seiner besorgten Eltern zu reagieren. Am nächsten Tag ging er wieder zur Schule, was sie ein wenig beruhigte, blieb aber wortkarg und verschlossen.
    Zum Eklat kam es, als sich Julius am darauffolgenden Sonntag weigerte, seine Eltern zur Heiligen Messe zu begleiten. In einem liberaleren Umfeld wäre das kaum ein Problem gewesen, so aber kam es zu einer erbitterten Auseinandersetzung mit seinem Vater, der als Katechet immerhin einen Ruf zu verlieren hatte. Meerburg war eine kleine Stadt, und das Wunder von Rom hatte das Seine dazu beigetragen, das Interesse der Öffentlichkeit an Glaubensangelegenheiten zu stärken.
    Harte Worte fielen – Worte, die Julius später bedauerte, hatte er doch niemanden verletzen wollen. Aber wie sollte er noch an einen gütigen Gott glauben nach allem, was geschehen war? Wenn tatsächlich kein Spatz vom Himmel fiel ohne Seinen Willen, wie es geschrieben stand, dann konnte Julia Ihm nicht viel bedeutet haben – Fliegen heute wieder niedrig, meine Ki n der. Wird wohl anderes Wetter. Natürlich waren solche Überlegungen fruchtlos, aber im Kern blieb die Tatsache, daß Julius seinen Glauben verloren hatte.
    Um das Vakuum zu füllen, das der Verlust hinterlassen hatte, vergrub er sich erneut in seine Studien. Oft arbeitete er bis tief in die Nacht, verriet aber niemandem, womit er sich beschäftigte. Mit seinen Eltern sprach er ohnehin nur noch das Nötigste; die gemeinsamen Mahlzeiten verliefen in eisigem Schweigen. Als sie ihm schließlich vorschlugen, auf eine Privatschule im Niederbayerischen zu wechseln, sagte Julius sofort zu. Es machte ihm nichts aus, seiner Heimatstadt den Rücken zu kehren. Jetzt, da Julia tot war, gab es nichts mehr, was ihn in Meerburg hielt.
    Das Vinzenzkolleg war ein ehrwürdiges Institut mit strengen Regeln, aber das störte Julius nicht. Er hatte nicht vor, über die Stränge zu schlagen. Das Internatsleben behagte ihm ebenso wie der geregelte Tagesablauf. Die Wohn- und Aufenthaltsräume waren mit Computern ausgestattet, und so verbrachte Julius oft die halbe Nacht mit Recherchen im Internet, deren Spuren er zu löschen gelernt hatte. Niemand schien zu bemerken, daß er bei den Gebeten nur die Lippen bewegte und jeder ernsthaften Diskussion über Glaubensangelegenheiten aus dem Weg ging.
    Die meisten hielten ihn für schüchtern, und er fügte sich in diese Rolle, obwohl seine Zurückhaltung keineswegs mangelndem Selbstbewußtsein entsprang. Ein paar Mal traf er sich mit einem Mädchen aus der Stadt, das angeblich Interesse an seiner Person bekundet hatte. Vermutlich handelte es sich um den Versuch wohlmeinender Mitschüler, sie miteinander zu verkuppeln. Nicole, so hieß das Mädchen, war dunkelblond und besaß ein schmales hübsches Gesicht mit sanften blauen Augen. Sie schien ihn wirklich zu mögen, und eine Zeit lang bildete sich Julius tatsächlich ein, er könne ihre Gefühle erwidern. Doch dann wurde ihm klar, daß es Julia war, deren Lächeln er in Nicoles Augen sah, und ihre Hand, die er hielt, wenn sie im Park spazierengingen. Selbst Nicoles Stimme veränderte nach kurzer Zeit ihren Klang und ähnelte der seiner toten Freundin. Das Mädchen schien zu spüren, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Ob er eine andere habe? Ohne lange zu überlegen, bejahte Julius, und damit war es vorbei. Zurück blieb ein Gefühl unbestimmter Trauer, das jedoch kaum etwas mit der Person des Mädchens zu tun hatte. Offensichtlich war er außerstande, andere Menschen so weit an sich heranzulassen, daß er etwas für sie empfand.
    So blieben ihm nur seine Studien und die schulische Arbeit, was dazu führte, daß Julius das Abitur als einer der Besten seines Jahrgangs ablegte. Seine Eltern reagierten hochzufrieden auf den erfolgreichen Abschluß und akzeptierten seinen Wunsch, im Ausland zu studieren.
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