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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars
Autoren: Frank W. Haubold
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es seine Eltern für angeraten, ein ernstes Wort mit ihm zu reden. Die Aussprache fruchtete, jedenfalls hatte es den Anschein, denn in der Folge blieben weitere Beschwerden aus, und Julius, der sein Zimmer sonst nur zu den Mahlzeiten zu verlassen pflegte, schien plötzlich Geschmack an den Unternehmungen Gleichaltriger zu finden, von denen er häufig erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte.
    Natürlich steckte ein Mädchen dahinter, und das zeitliche Zusammentreffen mit seinen Verfehlungen war keineswegs zufällig. Selbst Jahrzehnte später erinnerte sich Julius Fromberg noch gut daran, wie überrascht er damals gewesen war, als sie ihn vor der Schule angesprochen hatte: »He, du bist doch der mit der Schlange?«
    Zunächst hatte er angenommen, sie wolle sich nur über ihn lustig machen. Gleich würden ihre Freundinnen erscheinen und ihren Senf dazugeben – aber nichts dergleichen geschah.
    »Wird wohl so sein.«
    Sie lächelte wie jemand, der seine Vermutung bestätigt sieht, und machte keinerlei Anstalten, ihm aus dem Weg zu gehen. Ihre Augen waren tiefbraun wie ihr Haar und musterten ihn mit einer Intensität, die ihn verunsicherte.
    »Kann ich sie mal sehen?«
    »Nein, ich hab sie noch nicht zurück.«
    »Schade. Aber du hast doch bestimmt noch andere.«
    »Kann schon sein.«
    »Was denn für welche?«
    »Spinnen« – er riskierte ein scheues Lächeln –, »Mäuse, Schildkröten und so was halt.«
    »Menschen auch?«
    »Nein, Menschen sind zu kompliziert«, erwiderte er, unsicher, ob sie sich vielleicht doch über ihn lustig machte.
    »Stimmt.« Wieder dieses Lächeln, bei dem winzige goldgelbe Funken in ihren Pupillen tanzten. »Gibst du mir ein Eis aus?«
    »Klar, alles, was du willst.«
    Und damit war es ihm ernst.
    Sie hieß Julia, was ihm wie ein Wink des Schicksals erschien: Julia und Julius, das konnte unmöglich Zufall sein. Das Mädchen wohnte irgendwo in der Unterstadt, gestattete es aber nie, daß er es nach Hause begleitete. Gewöhnlich trafen sie sich am alten Grubenwehr, wo sie ihre Fahrräder zurückließen und dann den Uferweg entlang hinüber nach Marienthal liefen – einem verlassenen Dorf, das nach einer Reihe von Überschwemmungen von den Bewohnern aufgegeben worden war. Es war ein seltsamer Ort, einschüchternd und verlockend zugleich mit seinen Fachwerkhäusern und den riesigen, dunklen Scheunen, deren Schieferdächer sich unter der Last der Jahre krümmten.
    Vor allem aber war es ein Ort der Mutproben, was durch morsche Türen und Fensterläden erleichtert wurde, die dem entschlossenen Eindringling kaum Widerstand entgegenzusetzen vermochten. Und wie hätte Julius zugeben können, daß es mit seiner Entschlossenheit gar nicht so weit her war? Die spöttisch-aufmunternden Blicke des Mädchens waren wie eine Droge, die ihn Dinge tun ließ, die ihm normalerweise fernlagen.
    Dennoch schlug ihm das Herz jedes Mal bis zum Hals, wenn er sich durch eine Lücke zwischen schadhaften Brettern hindurchzwängte in Räume, die seit Jahrzehnten niemand mehr betreten hatte. Es war nicht die Dunkelheit, die er fürchtete, und auch nicht die Spinnweben, die sanft und klebrig über seine Haut strichen, sondern das Gefühl der Vergänglichkeit, das ihm mit einem Schwall abgestandener Luft entgegentrieb.
    Wenn Julia dann nachkam, veränderte sich die Atmosphäre augenblicklich. Die Schatten zogen sich zurück und die Luft roch nur noch nach Holz und trockenem Heu. Und es wurde wärmer. Natürlich wußte Julius, daß das im Grunde unmöglich war, aber es gab kein anderes Wort für das, was ihre Gegenwart in ihm auslöste.
    Gemeinsam erkundeten sie verlassene Werkstätten, Wohnräume, in denen wurmstichige Möbel unter staubigen Planen dahindämmerten, und Ställe, die nach all den Jahren immer noch streng rochen. Sie kletterten auf Dachböden und sprangen in Ballen aus Stroh, das lange vor ihrer Geburt eingebracht worden war. Einmal küßte sie ihn – nicht lange genug, daß er sie an sich ziehen konnte, aber doch so, daß sein Herz einen kleinen Sprung machte.
    »Später«, sagte sie dann, und es war wie ein Versprechen.
    Doch es gab kein Später.
    Am 19. August 2018, es war ein Samstag, stürzte Julia Senkiewicz – ihren Nachnamen erfuhr Julius erst in der Klinik – durch ein Loch im Heuboden vier Meter in die Tiefe und brach sich das Rückgrat zwischen dem dritten und vierten Halswirbel.
    Sie lebte noch zwei Tage – zwei Tage, in denen ihr Julius durch die Scheiben des mit Apparaten
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