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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Autoren: Ken Follett
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endlosen Wälder ließ Tom seine Frau nie aus den Augen. Sie war jetzt schon im fünften Monat und schleppte nicht nur auf ihrem Rücken, sondern auch in ihrem Bauch eine beträchtliche Last mit sich herum. Dennoch zeigte sie keinerlei Anzeichen von Müdigkeit. Auch Alfred ging es gut; er war ja auch in einem Alter, in dem die jungen Burschen oft nicht wissen, wohin mit ihren Kräften. Nur Martha ermüdete recht schnell. Ihre dünnen Beinchen waren wie geschaffen zum Rennen und Spielen, doch fehlte ihnen die Ausdauer für lange Wanderungen. Immer wieder fiel Martha hinter den anderen zurück, sodass sie stehen bleiben und auf das Kind mit dem Schwein warten mussten.
    Wieder schweiften Toms Gedanken ab. Einmal mehr dachte er an den Dom, den er eines Tages bauen wollte. Wie immer errichtete er zunächst einen imaginären Bogengang. Das war ganz einfach: zwei senkrechte Säulen, die einen Halbkreis trugen. Eine zweite, identische Konstruktion kam hinzu. In seiner Fantasie schob er die beiden Bögen einfach zusammen und fügte noch eine ganze Reihe weiterer hinzu, sodass sie schließlich ein tunnelartiges Gewölbe bildeten. Das Gewölbe war die Grundidee des Baus, denn es besaß ein Dach, das den Regen fernhielt, und zwei Wände, die das Dach trugen. Eine Kirche war nichts anderes als ein verfeinertes Tunnelgewölbe.
    Ein Gewölbe indes war dunkel. Die erste Verfeinerung bestand demnach im Einbau von Fenstern. Waren die Wände stark genug, so konnte man Löcher hineinschneiden. Sie sollten oben abgerundet sein, senkrechte Seiten haben und eine flache Fensterbank – kurzum die gleiche Form aufweisen wie der ursprüngliche Bogengang. Gleiche Formen bei Bögen und Fenstern waren eines der Geheimnisse, die die Schönheit eines Gebäudes bestimmten. Gleichmäßigkeit war ein anderes; Tom stellte sich auf jeder Seite des Gewölbes zwölf identische Fenster in regelmäßigen Abständen vor.
    Auch die Simse oberhalb der Fenster malte er sich schon aus, konnte sich jedoch plötzlich nicht mehr richtig konzentrieren. Er hatte das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Das ist doch albern, dachte er – und wenn schon … Natürlich werde ich beobachtet – von den Vögeln, den Füchsen und Wildkatzen, den Eichhörnchen, Ratten, Mäusen, Wieseln, Hermelinen und was sonst noch so kreucht und fleucht hier im Wald.
    Zur Mittagszeit rasteten sie am Rande eines kleinen Bachs. Sie tranken das klare Wasser und aßen kalten Speck und Holzäpfel, die sie vom Waldboden klaubten.
    Am Nachmittag war Martha sehr müde. Einmal fiel sie fast hundert Schritt zurück. Während sie auf das Mädchen warteten, dachte Tom daran, was für ein hübscher, kräftiger Blondschopf Alfred in jenem Alter gewesen war. Mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Verärgerung sah er seiner Tochter zu, die langsam aufschloss und dabei lauthals das Schwein ob seiner Trägheit beschimpfte. Plötzlich brach, nur wenige Schritte vor Martha, eine Gestalt aus dem Unterholz, und dann geschah alles so schnell, dass Tom glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können: Der Mann, der dem Kind so unvermittelt in den Weg getreten war, schwang eine Keule hoch über seine Schultern. Ein Entsetzensschrei wollte sich Toms Kehle entringen, doch noch ehe er sich Bahn brechen konnte, schlug der Mann zu. Die Keule traf das Mädchen so wuchtig an der Schläfe, dass Tom den furchtbaren Aufschlag hörte. Martha stürzte zu Boden wie eine fallen gelassene Puppe.
    Tom rannte den Weg zurück; seine Füße trommelten auf dem harten Erdboden wie die Hufe von Lord Williams Schlachtross. Er rannte, so schnell er nur konnte, und dabei war ihm, als sähe er die Geschehnisse, die sich vor seinen Augen abspielten, hoch oben auf einem Fresko an einer Kirchenwand: Er sah sie, aber er konnte nichts daran ändern. Der Wegelagerer, daran konnte kein Zweifel bestehen, war ein Outlaw, ein Vogelfreier. Es war ein kleiner, untersetzter Mann in einem braunen Rock. Seine Füße waren nackt. Für Bruchteile eines Augenblicks sah er Tom direkt an. Das Gesicht des Mannes war grauenvoll verstümmelt: Man hatte ihm die Lippen abgeschnitten – wahrscheinlich als Strafe für ein Delikt, das eine grobe Lüge einschloss. Die entstellte, von wulstigem Narbengewebe umgebene Mundpartie verwandelte das Gesicht in eine unablässig grinsende Fratze. Wäre da nicht die am Boden liegende Martha gewesen – allein der entsetzliche Anblick hätte Tom zurückschaudern lassen.
    Der Wegelagerer wandte den Blick von Tom: Das
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