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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich
Autoren: Marc Fischer
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ihre Libido; das Kuschelhormon Oxytocin, mit dem die Frauen sonst über die Milch die emotionale Bindung des Kindes verstärken, macht den Mann weich und gefügsam wie ein Säugling. Kommt ja ab und zu vor, dass Männer beim Küssen so gerührt sind, dass sie zu weinen anfangen. Im Grunde ist es eingegenseitiges Vergiften, ein gegenseitiges Anfixen, was wir uns antun: Ich trink von dir, du trinkst von mir, zusammen sind wir betrunken voneinander – das Paradies ist ein Witz dagegen, auch das islamische mit den ganzen Jungfrauen.
    »Jeder ist des anderen Vampir – so kann man es sehen«, erstattete ich der Frau Bericht, und zum ersten Mal war sie kurz zufrieden. Sie ist Romantikerin und mag Vampire, auch ich bin ja sehr blass. Dann aber legte sie wieder los:
    »Aber warum wähle ich dich und du mich, bevor wir uns überhaupt geküsst haben? Was sagt uns, dass wir küssen wollen, können, es genießen werden?«
    »Deine unfassbare Schönheit, my dear.«
    »Glaub ich nicht.«
    »Ein Kuss besteht aus 61 mg Wasser, 0,7 mg Eiweiß, 0,16 mg Drüsensekret, 0,45 mg Salz und 0,76 mg Fett – wusstest du das? Fast eklig, wenn man drüber nachdenkt, nicht wahr?«
    »Lenk nicht ab.«
    Wieder lag sie richtig: Entscheidender als Optik oder Kusstechnik ist der Geruch, haben Wissenschaftler in den letzten Jahren herausgefunden. Unkompliziert geht anders: Der Duft soll dem eigenen ähneln, damit wir ihn wiedererkennen, aber auch bitte nicht gleichen, damit wir keine Inzucht begehen. Complicado! Man könnte ein Blues-Lied draus machen: Don’t fall in love with that strange mister, but also don’t do it with your brother or sister! Der Geruch ist ein Test, um zu sehen, wie gut unsere Immunsysteme harmonieren, damit wir Kinder kriegen können, meint die österreichische Ethnologin Dr. Elisabeth Oberzaucher: Schweiß und Speichel sagen mehr über uns als ein hübscher Hintern oder eine gute Frisur. Die Frau, um die es hier geht, riecht nach frischen Äpfeln, ich ein wenig nach Zimt, das passt nicht schlecht, unsere Kinder könnten Pfannkuchen werden.
    Ich mag Pfannkuchen, doch so ganz überzeugte mich die reine Dufttheorie nicht, denn ich s a h die Frau, bevor ich sie r o c h. Ichsah, wie sie sich bewegte, tanzte, und all das war wunderbar. Für Oberzaucher ist das kein Widerspruch: Mimik, Gestik, Empathie – sie spielen alle eine Rolle, bevor es zum Kuss kommt, weil sich in diesen Dingen unser Persönlichkeitsprofil offenbart. Körper können alles, nur nicht lügen, und sie wollen zueinander passen, das ist das Nette an ihnen. Oberzaucher hat dazu sogar eine spezielle Kamera entwickelt, die »Charisma Cam«, die einen Menschen aufgrund der Dynamik seiner Bewegungen charakterisiert. An dem alten Satz, wenn ihr gut miteinander tanzen könnt, werdet ihr auch sonst gut miteinander sein, stimmt also so ziemlich alles. Die Frau bewegt sich besser als John Travolta. Ich allerdings auch, Travolta ist ja etwas langsamer geworden in den letzten Jahren, seit er nur noch Boeings fliegt.
    Hinternwackeln plus Aussehen plus Duft plus Reproduktionswunsch: Vielleicht lag da die Verbindung zum Hominiden, zum Affen, zu mir, zu uns. Oder fehlte noch was, um das Kuss-Geheimnis endgültig zu klären?
    Es war ein kalter Winterabend, als ich meiner Klientin die Ergebnisse meiner Forschungen vortrug:
    »Der Kuss«, begann ich im Tonfall von Wolfgang Schäuble, »ist so ziemlich alles. Er verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart, die Lust mit der Fortpflanzung, den Kosten mit dem Nutzen. Er ist eine Kraft, die nicht zu unterschätzen ist. Wer küsst, offenbart sich und hinterlässt Spuren; er kommuniziert und tauscht Informationen aus. Der Erfahrungsgewinn, den wir aus dem Kuss ziehen können, ist unschätzbar, sehr verehrte Damen und Herren: Datenbankmäßig gesehen ist er eine auf der Welt einmalig vorkommende Kombination aus genetischem Fingerabdruck, Speicheltest und biometrischem Pass. Er kann in Wirtschaft und Politik sowie bei der Aufklärung von Terror und Verbrechen hilfreich sein. Unter allen Umständen sollten wir unser Augenmerk in Zukunft verstärkt auf ihn richten; er ist des Menschen Dreh- und Angelpunkt, das berühmte Universum in der Nussschale!«

    »Mein Gott, ist das alles technisch und kalt«, sagte die Lady. »So genau will man’s ja nun wirklich nicht wissen. Da gefiel mir deine erste Erklärung fast besser.«
    »Welche war das noch mal?«
    »Die mit der Seele, die im Atem steckt. Nur dass du sie auf eBay verkaufen wolltest,
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