Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich
Autoren: Marc Fischer
Vom Netzwerk:
Stunden ARD
    Wenn du vorhast, den ganzen Tag fernzusehen, ist es vielleicht nicht schlecht, wenn das mit einem Schock beginnt: Es ist kurz nach sechs, als die Riesen-Nonne erscheint, sie trägt Hakennase und Kruzifix, will bekehren, strafen, prügeln. Traum, Albtraum, Höllenbesuch? Nein, bloß das »Morgenmagazin« der ARD . »Missbrauchte Heimkinder formieren sich zum Protest in Berlin«, sagt eine Stimme; Männer, ältere, verletzt aussehende, schleppen eine unfassbar hässliche Karnevalsfigur durch die Straßen, eben diese Prügelnonne. Alles vor elf ist sonst nicht meine Zeit, aber jetzt bin ich hellwach: Guten Morgen, Deutschland, heut’ komm’ ich über dich.
    Denn das ist der Plan an diesem Tag, das ist das Terror-Experiment: Zum sechzigsten Geburtstag der ARD das ganze Programm weggucken, um zu sehen, wie das aussieht, wie sie das machen, ob sich das lohnt. Macht man ja sonst nicht. Eine Zeitung blätterst du durch, aber wer scannt einen kompletten Sender? Im Grunde genommen wissen wir NICHTS übers Fernsehen, gerade WEIL es immer läuft. Für den Fall, dass es zu hart wird, stehen Apfelsinen, Paracetamol, Alkohol und Zigaretten bereit, wesentliche Arztnummern (Augen, Herz, Psyche) sind notiert.
    Während der Kaffee kocht, moderiert Das-Erste-Morgenmagazin-Anchormann Sven Lorig durch, was bisher so passiert ist: Vulkanausbruch auf Island, Aschewolken; Erdbeben in Nordchina; Präsidentenpaar-Beerdigungs-Diskussion in Polen. ZwischendurchKinderreporter aus Hamburg (»Jan Delay, warum nuschelst du so?«, keine schlechte Frage) und Watt-Bericht von der Hamburger Hallig. »Der Sonnenaufgang, das ist ja der Wecker für die Vögel«, sagt die Reporterin, während sie durch den Schlick stapft, sie erinnert in Stil und Auftritt an Elke Heidenreich, ich meine das als Kompliment. So schön und wattig ist Deutschland, der Norden vor allem. Das ist das gute, alte ARD – Gefühl, bei dem dir nichts passieren kann. Hervorgeholt wird es den Tag über immer wieder mit einem Geburtstagsspot, der an Nicoles »Grand Prix«-Sieg, JFK s »Ick bin ein Berliner«-Rede und Lehmanns Elfmeterparade 2006 gegen Argentinien erinnert. Das war die ARD damals; was ist sie heute? Obama/Lena/René Adler?
    Sven Lorig bemüht sich um Lässigkeit, er macht das ganz ordentlich, aber warum ist er so schlimm angezogen? Graues Jackett, lila-weiß-gestreiftes Hemd, aufmerksam ausgewaschene Jeans – stellt Jörg Pilawa seine Sachen zusammen? Würde er so in meiner Wohnung auftauchen, würde ich denken, er will mir einen neuen Handyvertrag verkaufen. Angeblich kann er zaubern (soll mal Gauklertricks gelernt haben) – warum tut er das nicht und zaubert sich ein Hemd mit vernünftigem Kragen? Er könnte auch gleich am Studio weiterzaubern, denn alles hier leuchtet grellgelb-orange, die Motto-Bilder, mit denen die Themen ankündigt werden, erinnern an das Frühstücksbuffet eines Mittelklassehotels: Tomaten, Eier, Apfelsinen, weiße Tassen; geht’s um Sport, wird ein roter Ball dazugelegt. Die Sendung und ihre Moderatoren wollen Orangensaft sein, frisch, gesund! Ich mag Orangensaft, aber nach drei Stunden stößt es etwas sauer auf, fast muss ich rülpsen, Entschuldigung. Gut, dass Judith Rakers mit der »Tagesschau« stündlich immer wieder dazwischenfährt. Erste Zigarette.
    9 Uhr 05: »Rote Rosen«, Folge 780. Was ist das, »Rote Rosen«? Noch nie gesehen, wusste gar nicht, dass es das gibt. Geht aber gut los: Spielt in Lüneburg, und in den ersten zwei Minuten gibt’s zwei Trennungen und eine Schwangerschaft, es fallen die Sätze »Dubist nicht der Vater«, »Tu das nicht, Meike!« und »Ich hoffe, du kannst mir verzeihen«. Seifenzeit auf ARD , ich bin in Stimmung, kann aber schon nach fünf Minuten nicht mehr: Die Schauspieler, man kennt sie allesamt aus anderen ARD – Produktionen, agieren wie Roboter, denen man Arztroman-Skripte gefüttert hat; die Story scheint völlig egal. Man merkt, dass die Serie entwickelt wurde, um die Hartz- IV -Typen und Hausfrauen rüberzuholen, die um diese Zeit lieber bei RTL oder Sat.1 abhängen. Nichts dagegen, aber »Rote Rosen« ist weder echter Trash noch irgendwie gut gemacht. Die Serie wirkt so, als würde sich der Sender für das Format schämen, es aber trotzdem drinhaben müssen. Zweite Zigarette. Auf meiner Facebook-Seite poste ich »schaut ARD «. Vito Avantario gefällt das. Er wird der Einzige bleiben. Kollegin Christine Mortag fragt sich, was zur Hölle passiert ist. Für sie scheint die ARD vor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher