Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
stürbe, wie lautete ihre Diagnose?«
    »Eine ganze Reihe von Ursachen käme in Betracht«, antwortete der Arzt. »Als erstes müßte ich die Krankheitsgeschichte des Patienten wissen und klären, ob er irgendwelche Unfälle erlitten hat oder was er zuletzt gegessen hat.«
    »Und wenn sich seine Pupillen geweitet hätten?«
    »Dann würde ich eine Vergiftung vermuten.«
    »Möglicherweise durch die Blätter oder die Rinde einer Eibe?«
    »Durchaus denkbar.«
    »Und wenn der Patient auch noch Hautflecken hätte?«
    »Oh, dann kann das nicht die Eibe sein. Das klingt eher nach Maiglöckchen…«
    Durch den Gerichtssaal ging ein Zischen. Der Richter beugte sich vor. Seine Züge waren angespannt, seine Augen weit aufgerissen. Die Geschworenen saßen auf einmal kerzengerade da. Harvester zerbrach, ohne es zu merken, den Bleistift in seiner Hand.
    »Maiglöckchen?« sagte Rathbone mit Bedacht. »Sind die denn giftig?«
    »Und ob! So giftig wie Eibe, Schierling und Tollkirsche. Und zwar alles: Blüten, Blätter und Zwiebeln. Selbst das Wasser, in dem die geschnittenen Blumen stehen, ist tödlich. Das Gift löst genau die von Ihnen beschriebenen Symptome aus.«
    »Ich verstehe. Vielen Dank, Dr. Rainsford. Würden Sie sich bitte zur Verfügung halten, falls Mr. Harvester Fragen an Sie richten möchte?«
    Harvester stand auf und holte tief Luft. Dann schüttelte er den Kopf und setzte sich wieder. Er sah mitgenommen aus.
    Da beide Anwälte auf ein Schlußplädoyer verzichteten, zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Nach bereits zwanzig Minuten nahmen sie wieder auf ihrer Bank Platz.
    »Wir befinden zugunsten der Beklagten, Gräfin Zorah Rostova«, erklärte ihr Sprecher mit blassem, betrübtem Gesicht. Als erstes sah er den Richter an, um sich zu vergewissern, daß er seine Pflicht ordnungsgemäß erfüllt hatte. Danach maß er Rathbone mit einem ernsten Blick, der seine ganze Ablehnung verriet. Schließlich setzte er sich wieder.
    Niemand jubelte. Die Zuschauer hatten vielleicht nicht gewußt, wie die Verhandlung ausgehen würde, aber mit diesem Ende hatten sie nicht gerechnet. Die Wahrheit hinterließ einen schalen Nachgeschmack. Nach Triumphieren war keinem zumute. Zu viele Träume waren in den Schmutz gezogen worden und für immer zerbrochen.
    Rathbone wandte sich an Zorah. »Sie hatten recht; sie hat ihn ermordet«, seufzte er. »Was wird nun aus dem Unabhängigkeitskampf? Wird man einen neuen Führer finden?«
    »Brigitte«, antwortete sie. »Sie ist überaus beliebt, hat den nötigen Mut, die Überzeugungskraft und setzt sich mit bedingungsloser Leidenschaft für ihr Land ein. Rolf und die Königin werden hinter ihr stehen.«
    »Aber wenn der König stirbt, wird Waldo auf den Thron folgen«, wandte Rathbone ein. »Ulrike wird dann einen Großteil ihrer Macht einbüßen.«
    Zorah lächelte. »Glauben Sie nur das nicht! Ulrike wird immer mächtig sein. Die einzige, die ihr in etwa das Wasser reichen kann, ist Brigitte. Sie stehen auf derselben Seite. Trotzdem wird die Vereinigung kommen. Die Frage ist nur, wann und wie.«
    Im Saal herrschte Aufbruchsstimmung. Die Zuschauer strebten unter allgemeinem Gemurmel zum Ausgang, als sich nun auch Zorah erhob. »Vielen Dank, Sir Oliver. Ich fürchte, meine Verteidigung ist Sie teuer zu stehen gekommen. Man wird Sie deswegen ganz gewiß nicht lieben. Sie haben den Leuten zuviel von den Dingen vor Augen geführt, die sie lieber nicht gewußt hätten. Sie haben den Reichen und Privilegierten einen Spiegel vorgehalten und ihnen, wie kurz auch immer, sehr viel mehr gezeigt, als ihnen lieb ist. Sie haben sie gezwungen, Teile von sich anzuschauen, die sie gerne ignoriert hätten. Und Sie haben die Träume gewöhnlicher Menschen zerstört, denen es gefällt, ja, die es sogar nötig haben, uns für bessere und klügere Menschen zu halten, als wir in Wahrheit sind. In Zukunft wird es ihnen schwerer fallen, unseren Reichtum und Müßiggang gleichmütig hinzunehmen. Trotzdem wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, denn zuviel hängen auf die eine oder andere Weise von uns ab. Auch werden wir ihnen nicht vergeben, daß sie unsere Fehler gesehen haben.«
    Ihre Züge wurden straffer. »Vielleicht hätte ich nicht den Mund aufmachen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich sie hätte davonkommen lassen. Womöglich hätte ich dann weniger Schaden angerichtet.«
    Er ergriff sie am Arm. »Sagen Sie das nicht.«
    Sie lächelte. »Weil es ein schwerer Kampf war? Und der Sieg
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher