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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin
Autoren: Anne Perry
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Blick unablässig auf Rathbone gerichtet, setzte sie sich nun doch auf den grünen Stuhl und zupfte zerstreut an den offenbar störenden Röcken. »Ist nicht die Wahrheit im englischen Gesetz geschützt, Sir Oliver?« beharrte sie.
    »Doch, das ist sie«, gab er zu. »Aber man muß sie auch beweisen. Wer sie lediglich feststellt, ohne sich auf Fakten zu stützen, macht sich der Verleumdung schuldig. Natürlich gilt hier ein weniger hoher Grad der Beweispflicht als in Strafprozessen.«
    »Grad der Beweispflicht? Etwas kann doch nur wahr oder unwahr sein. Welchen Grad des Beweises brauche ich da?«
    Rathbone setzte sich ebenfalls und beugte sich diskret über den Schreibtisch. »Der Beweis einer wissenschaftlichen Theorie muß über jeden Zweifel erhaben sein«, erklärte er. »In der Regel wird dazu die Unzulänglichkeit sämtlicher anderen Theorien vorgeführt. Im Strafrecht dagegen muß der Beweis über jeden vernünftigen Zweifel erhaben sein. In Ihrem Fall wiederum handelt es sich um eine zivilrechtliche Sache. Hier ist die Plausibilität ausschlaggebend. Die Geschworenen lassen sich von den Argumenten überzeugen, die sie als die wahrscheinlich wahren ansehen.«
    »Ist das gut für mich?« platzte sie heraus.
    »Nein. Es wird Ihrer Gegnerin nicht schwerfallen, den Geschworenen nahezulegen, daß Sie sie verleumdet haben. Dazu muß sie nur beweisen, daß Sie diese Behauptung tatsächlich aufgestellt und damit ihren Ruf geschädigt haben. Letzteres wird wohl nicht schwer nachvollziehbar sein.«
    »Ersteres auch nicht«, sagte die Gräfin mit einem leisen Lächeln. »Ich habe es wiederholt und in aller Öffentlichkeit festgestellt und verteidige mich damit, daß es die Wahrheit ist.«
    »Aber haben Sie auch einen Beweis dafür?«
    »Der über jeden vernünftigen Zweifel erhaben ist?« Ihre Augen weiteten sich. »Ich würde sagen, das hat zwangsläufig die Frage: ›Was ist vernünftig?‹ zur Folge. Nun, ich bin überzeugt davon.«
    Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
    »Dann überzeugen Sie mich, Ma’am«, bat er mit einem galanten Lächeln.
    Urplötzlich warf sie den Kopf zurück und brach in ein Gelächter aus, in dem sich der reiche Klang ihrer etwas rauhen Stimme offenbarte. Nur mit Mühe gewann sie die Fassung zurück. »Ich glaube, ich mag Sie, Sir Oliver!« keuchte sie. »Sie sind schrecklich englisch, aber das ist gewiß nur von Vorteil.«
    Rathbone blieb auf der Hut. »Allerdings.«
    »Aber natürlich! Alle Engländer sollten sich immer englisch verhalten. Ich soll Sie also davon überzeugen, daß Gisela Friedrich ermordet hat?«
    »Wenn Sie die Güte hätten«, erwiderte er etwas steif.
    »Und dann übernehmen Sie den Fall?«
    »Unter Umständen.« Ein groteskes Ansinnen, das diese Frau da an ihn stellte!
    »Wie vorsichtig Sie sind!« rief sie mit einem Anflug von Erheiterung. »Na gut, dann fange ich mit dem Anfang an. So hätten Sie es doch gerne, nicht wahr? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie je einen anderen Anfang wählen würden. Was mich betrifft, würde ich das Pferd jedoch lieber beim Schwanz aufzäumen, dann wäre der Fall bedeutend leichter zu verstehen.«
    »Dann zäumen Sie das Pferd beim Schwanz auf, wenn Sie möchten«, bot er ihr eilig an.
    »Bravo.« Sie deutete mit den Fingerspitzen ein Händeklatschen an. »Gisela erkannte die Notwendigkeit, ihren Mann zu ermorden, und fast im selben Moment bot sich ihr die Gelegenheit. Sie brauchte sie nur noch beim Schopfe zu ergreifen. Er hatte sich bei einem Reitunfall verletzt. Er lag hilflos im Krankenbett.« Sie senkte die Stimme und beugte sich etwas vor. »Niemand konnte beurteilen, wie schlimm seine Verletzung war und ob er sich davon erholen würde oder nicht. Sie war mit ihm allein. Sie tötete ihn.« Die Gräfin breitete die Arme aus. »Es ist vollbracht.« Sie zuckte die Schultern.
    »Niemand schöpfte Verdacht. Wer hätte eine solche Tat denn auch für möglich gehalten? Abgesehen davon war das Ausmaß seiner Verletzungen niemandem bekannt.« Sie schürzte die Lippen. »Wie natürlich. Wie tragisch.« Sie seufzte. »Gisela ist untröstlich. Sie trauert. Die ganze Welt fühlt mit. Was könnte einfacher sein?«
    Rathbone musterte diese außergewöhnliche Frau. Schön konnte man sie gewiß nicht nennen, doch strahlte sie etwas Lebendiges aus, das, obwohl sie jetzt still dasaß, den Blick auf sie zog, als gebühre ihr Aufmerksamkeit. Und dennoch waren ihre Äußerungen skandalös und nach dem Gesetz mit größter
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