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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin
Autoren: Anne Perry
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Sicherheit ehrenrührig.
    »Warum sollte sie so etwas tun?« fragte er in skeptischem Ton.
    »Ach, um das zu erklären, muß ich nun wohl doch zum Anfang zurückkehren.« Sie lehnte sich zurück und musterte ihn in der Manier einer Lehrerin. »Verzeihen Sie mir, wenn ich auf Dinge zurückgreife, die Ihnen bereits bekannt sind. Manchmal bilden wir uns ein, unsere Angelegenheiten seien anderen ebenso wichtig wie uns – was natürlich nicht der Fall ist. Gleichwohl ist fast die ganze Welt über die Romanze zwischen Friedrich und Gisela auf dem laufenden – einem Kronprinzen, der sich in eine Frau verliebt hat, die von seiner Familie nicht akzeptiert wurde und deretwegen er sogar auf die Thronfolge verzichtete, um sie nicht aufgeben zu müssen.«
    Rathbone nickte. Es ging um nichts weniger als die Romanze des Jahrhunderts, die Europa fasziniert und verzaubert hatte. Aber gerade aus diesem Grund war der Vorwurf des Mordes, den diese Frau da erhob, so absurd. Nur sein Taktgefühl hinderte ihn daran, sie zu unterbrechen und zum Gehen aufzufordern.
    »Sie müssen wissen, daß unser Land sehr klein ist«, fuhr die Gräfin in einem belustigten und zugleich eindringlichen Ton fort. Man konnte den Eindruck gewinnen, sie habe sich diese Angelegenheit wider besseres Wissen zur Herzenssache gemacht und verstehe seine Skepsis durchaus. »Es ist ringsum von deutschen Fürstentümern umgeben. Wir befinden uns mitten in großen Umwälzungen. Das trifft für fast ganz Europa zu. Doch anders als Frankreich, Britannien oder Österreich steht uns – ob wir wollen oder nicht – die Vereinigung mit dem großen deutschen Reich bevor. Einige von uns sind dafür…« – ihre Lippen wurden schmal –, »andere dagegen.«
    »Hat das denn wirklich mit Prinzessin Gisela und Friedrichs Tod zu tun?« unterbrach er sie. »Wollen Sie behaupten, es handle sich um einen politischen Mord?«
    »Natürlich nicht!« rief sie entnervt. »Wie können Sie nur so naiv sein?«
    Unvermittelt überlegte er, wie alt sie sein mochte, was sie früher alles erlebt hatte. Wen hatte sie geliebt oder gehaßt? Welche kühnen Träume hatte sie verfolgt, welche davon verwirklicht, welche nicht? Ihre Bewegungen waren die einer jungen Frau und verrieten die Eleganz und den Stolz eines geschmeidigen Körpers. Und doch hatte ihre Stimme keinen jugendlichen Tonfall, sprachen aus ihren Augen zuviel Wissen, Abgeklärtheit und Selbstvertrauen, als daß er sie für unreif hätte halten können.
    Ihm lag schon eine Antwort auf der Zunge, doch dann überlegte er es sich anders. Sie wäre zu steif gewesen, und er hätte damit nur gezeigt, daß er sich verletzt fühlte.
    »Die Geschworenen werden naiv sein, Madam«, korrigierte er sie, sorgfältig darauf bedacht, keine Miene zu verziehen.
    »Erklären Sie mir, erklären Sie uns, den Geschworenen, warum die Prinzessin, deretwegen Prinz Friedrich auf die Krone verzichtet und sein Land verlassen hat, jetzt auf einmal nach zwölf Jahren Ehe ihren Mann ermorden sollte. Für meine Begriffe kann sie dabei nur verlieren. Können Sie mir erläutern, welche Vorteile sie davon hätte?«
    In das dumpfe Rattern des Verkehrs auf der Straße mischten sich jäh die Rufe eines Bierkutschers.
    Der Ausdruck der Belustigung in ihren Augen erstarb.
    »Wir müssen zur Politik zurückkehren, auch wenn es sich nicht um einen politischen Mord handelt«, erklärte sie gehorsam. »Im Gegenteil, es war eine hochgradig persönliche Angelegenheit. Gisela ist ausschließlich auf Materielles bedacht. Es gibt wenig politische Frauen, wissen Sie. Dafür sind die meisten von uns zu direkt und pragmatisch. Auch das ist noch kein Verbrechen, aber ich muß Ihnen den politischen Hintergrund erklären, damit Sie verstehen, was sie zu gewinnen und zu verlieren hatte.« Sie rutschte auf dem Stuhl herum. Obwohl er winzig war, schien der Reifen unter ihrem Rock sie zu stören. Offenbar wäre es ihr am liebsten, sie könnte ganz ohne leben.
    »Möchten Sie Tee?« fragte er. »Ich kann Simms bitten, Ihnen ein Tablett zu bringen.«
    »Ich würde nur zuviel reden und ihn kalt werden lassen«, wehrte sie ab. »Und ich verabscheue kalten Tee. Aber danke für das Angebot. Sie haben herrliche Manieren, so absolut korrekt! Nichts bringt Sie aus der Fassung. Nie mit der Wimper zucken – dafür seid ihr Briten ja so berühmt. Ich finde das empörend und charmant zu gleicher Zeit.«
    Sehr zu seinem Ärger lief er rot an.
    Sie ging nicht darauf ein, auch wenn sie es zweifellos bemerkt
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