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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin
Autoren: Anne Perry
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Hand.«
    Die Zuschauer rutschten unruhig auf ihren Stühlen herum.
    Und der Richter und Harvester schienen ihren Ohren nicht zu trauen. Sagte die Angeklagte etwa zugunsten der Klägerin aus?
    »Und doch sind Sie sicher, daß Gisela nicht glücklich war?« fragte Rathbone in dem ungläubigsten Ton, den er zuwegebrachte. »Wie kommen Sie darauf? Man sollte meinen, sie hätte alles gehabt, was eine Frau begehren kann.«
    Wut, aber auch Mitleid jagten in raschen Folge über Zorahs Gesicht und verdrängten alle anderen bis dahin gezeigten Gefühle. »Ich sah sie allein oben auf dem Treppenabsatz stehen«, antwortete sie zögernd. »Das Licht schien ihr ins Gesicht, und ich stand unten im Schatten. Sie ahnte nicht, daß ich sie beobachtete. Einen Moment lang sah sie wie eine Gefangene aus, wie ein Tier in einem Käfig. Die Miene, die sie machte, war entsetzlich. Solch schreckliche Hoffnungslosigkeit habe ich noch nie bei einem Menschen erlebt. Es war abgrundtiefe Verzweiflung…«
    Ungläubiges Schweigen breitete sich aus. Sogar der Richter zeigte sich betroffen.
    »Dann ging hinter mir eine Tür auf«, berichtete Zorah fast im Flüsterton weiter. »Sie hörte das Geräusch, und dieser Gesichtsausdruck löste sich jäh auf. Sie zwang sich zu einem Lächeln und kam voller gekünstelter Lebensfreude die Treppe herunter. Und ihre Stimme war schrill.«
    »Kannten Sie den Grund dieser Emotion, Gräfin?«
    »Damals nicht. Ich sagte mir, sie habe vielleicht Angst, Friedrich würde am Ende doch noch dem Druck seiner Familie und der Pflicht erliegen und ohne sie nach Felzburg zurückkehren. Trotzdem reichte das nicht als Erklärung für diese Panik, die ich auf ihrem Gesicht sah, als ob sie… in einer Falle gefangen wäre und sich verzweifelt gegen etwas wehrte, das sie umklammerte und erstickte. Sie wäre die letzte Frau auf der Welt, für die ich Mitleid übrig hätte, und doch kann ich den Ausdruck ihrer Augen, als sie damals dort oben stand, bis heute nicht vergessen.«
    Kein Laut war im Saal zu hören. Die Spannung war schier mit Händen zu greifen.
    »Und der Rest des Abends?« half Rathbone nach.
    »Wir tranken, spielten, lachten und machten gewagte Witze und grausame Bemerkungen über Leute, die wir alle kannten oder zu kennen glaubten. Gegen vier Uhr am Morgen gingen wir ins Bett, einige in ihr eigenes, andere nicht.«
    Immer lauter äußerte das Publikum seinen Unmut, und die Geschworenen fühlten sich sichtlich unbehaglich. Sie mißbilligten, daß man sich derart abfällig über Höherstehende ausließ. Selbst wenn sie es nicht bestritten, so wollten sie doch nicht gezwungen werden, es sich einzugestehen. Einigen von ihnen stand der Schock geradezu ins Gesicht geschrieben.
    »Und das war ein typischer Tag?« fragte Rathbone müde.
    »Ja.«
    »War der Ablauf jedesmal derselbe?«
    »Bis auf ein, zwei Details verliefen mehr oder weniger alle Tage so ähnlich«, antwortete Zorah. Sie stand immer noch stockgerade und mit erhobenem Kopf da, obwohl sie den Blick senken mußte, weil alles sich unter ihr abspielte. »Wir aßen und tranken, wir ritten aus oder unternahmen Fahrten mit Kutschen oder Gigs. Wir lieferten uns kleine Rennen. Es gab Picknicks und Partys. Wir spielten Krocket. Die Männer schossen Vögel. Ein oder zweimal ruderten wir auf dem Fluß. Wir gingen im Wald oder im Garten spazieren. Die Männer spielten Karten oder Billard und rauchten. Und natürlich schlossen sie auf alles mögliche Wetten ab – wer beim Kartenspielen gewinnen würde oder welcher Diener auf die Glocke reagieren würde. Am Abend gab es musikalische oder theatralische Darbietungen, oder wir spielten Spiele.«
    »Und Friedrich und Gisela waren einander immer so ergeben, wie Sie es beschrieben haben?«
    »Immer.«
    Harvester stand auf. »Euer Ehren, das Privatleben dieser Leute geht doch niemanden etwas an! Außerdem sind das unbewiesene und immer noch absolut irrelevante Behauptungen!«
    Rathbone wartete nicht die Reaktion des Richters ab, sondern machte eilig weiter. »Gräfin Rostova! Haben Sie Prinz Friedrich nach dem Unfall in seiner Suite besucht?«
    »Einmal.«
    »Würden Sie uns bitte den Raum beschreiben?«
    »Euer Ehren!« rief Harvester.
    »Es ist sehr wohl relevant!« überschrie ihn Rathbone. »Ich versichere dem Gericht, daß wir einen entscheidenden Punkt erreicht haben!«
    Das Hämmern des Richters ging in der Aufregung unter.
    »Euer Ehren!« Harvester war nicht mehr zu bezähmen. Wütend baute er sich vor Rathbone auf. »Diese
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