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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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können, dass das Bett unter ihr heftiger hin- und herschwankte als eine Sambuq. Sobald sie die Augen schloss, rauschten Bilder an ihr vorbei. Auf dem letzten war Matejs Gesicht, immer wieder Matejs Gesicht. Deutlich erkannte sie den Goldfleck in seinem Auge und die brennenden Fotografien.
    »Frierst du?«, fragte Levin, der neben ihr lag, den Kopf auf den linken Arm gebettet und an die Zimmerdecke starrend.
    »Ein bisschen, ja«, gab Lis zu und rutschte zu ihrem Bruder hinüber. Er drehte sich auf die Seite und nahm sie in den Arm. Es tat gut, sich an ihn zu schmiegen. Seine Wange mit den vereinzelten Bartstoppeln kratzte an ihrem Ohr. Sein Herz schlug so langsam und gleichmäßig, es schläferte sie beinahe ein.
    »Danke, dass du mich aus dem Turm geholt hast«, sagte er plötzlich. »Jede Minute habe ich damit gerechnet, dass… sie mich holen. Einer der Wächter hatte mir gesagt, die Scheiterhaufen seien schon errichtet.« Seine Stimme wurde leiser, Lis hörte die Furcht heraus. »Ich habe versucht mir einzureden, dass es ein Traum ist. Ich dachte, ich müsste verrückt werden. Und dann, als ich tot war…«
    Lis zuckte zusammen. »Du warst nicht tot!«, flüsterte sie.
    »Nicht?« Er lächelte. »Warum nicht? Wir waren doch auch in Antjana, oder?«
    Sie schloss die Augen und ging in Gedanken den Weg von Tonas Hütte zum Priesterplatz. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie wieder den Duft in Zlatas Zimmer wahrnehmen und den Schrein mit den Götterstatuen sehen. Sie erinnerte sich sogar an den zarten Geschmack von gegartem Katzenhai. Ein unbestimmtes Heimweh erfüllte sie und eine nagende Sehnsucht nach Tonas Lachen, nach Mokosch und Marzana und sogar nach Wit, dem sanften Wit, der sie beschützt und ihr das Leben gerettet hatte. Und dann, natürlich, Matej. Immer wieder Matej.
    »Wir waren tot«, fuhr Levin fort. »Und jetzt haben wir ein neues Leben.«
    »Matej auch?«, fragte sie leise. »Er war nicht am Strand.«
    Sie spürte, wie ihr Bruder nickte. »Wir werden ihn finden, Lis, ganz sicher.«
    Seine Worte trösteten sie und nahmen ihr die bange Unsicherheit. »Und Tona? Mokosch und Pogoda?«, flüsterte sie weiter. »Und die Desetnica? Was ist aus ihnen geworden?«
    Er seufzte und drehte sich auf die Seite, bis er ihr direkt in die Augen schauen konnte, eine Intimität, die ungewohnt war. »Nun, wir wissen nichts von Antjana. In keinem Buch steht geschrieben, was aus ihnen wurde. Vielleicht hat die Herrschaft der Desetnica das Volk von Antjana schließlich wieder entzweit. Vielleicht haben die Anhänger Poskurs sich wie die geheimen Kuriere verbündet – diesmal gegen die Sarazenen und die Desetnica. Vielleicht wiederholt sich all das immer wieder, bis die Stadt schließlich untergeht, ohne in der Geschichte eine Spur zu hinterlassen.«
    Aber zumindest hatte Mokosch ihren Pogoda wieder, dachte Lis. Hoffentlich haben sie glücklich gelebt. Hoffentlich ist Tonas wunderschönes Kupferhaar wieder lang und glänzend geworden. Vielleicht hat sie sich verliebt – in Wit möglicherweise. Oder in Jishaar oder Aladar, wer weiß. Zum ersten Mal wurde ihr richtig bewusst, dass sie sich von all den Menschen verabschieden musste, für immer.
    Sie schwiegen und hörten den Geräuschen auf der Straße zu. Tauben gurrten, Menschen unterhielten sich. Schneidend klar hallten die Stimmen in der frühen Luft.
    »Wirst du zu deinem nächsten Rollenspiel gehen?«, murmelte Lis.
    »Nun ist es kein Spiel mehr«, antwortete Levin nach einer sehr langen Weile. »In Antjana dachte ich wirklich, ich sei ein Magier oder ein Seher.« Er lachte auf, und diesmal klang es nicht albern oder durchgedreht, sondern beinahe erschreckend erwachsen. »Nun, jetzt ist mir zumindest klar, was ich nicht bin. Das ist schon mehr, als ich in meinem ersten Leben wusste.«
    Der Schmerz über den Verlust schwang in seiner Stimme mit. Lis erkannte, er würde lange, sehr lange brauchen, um Antjana und die Erinnerung an sein Leben als Hohepriester zu überwinden. Gerne hätte sie ihn getröstet, doch sie wusste, dass es von nun an eine Tür zwischen ihnen gab, die sie soeben einvernehmlich geschlossen hatten, so behutsam und unwiderruflich wie die Tür zu einem Kinderzimmer, in dem nur noch die Erinnerungen schliefen.
    Eng umschlungen, im Bewusstsein des Verlustes und gleichzeitig all der neuen Möglichkeiten, die sich vor ihnen auftaten, lagen sie da, bis sie ein Klopfen an der Tür zusammenzucken ließ. Nach der ersten atemlosen Schrecksekunde mussten sie
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