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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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Wohlig ließ sie ihre Anspannung los und genoss den Anblick der wuselnden Farbflecken, bevor ihr nach und nach bewusst wurde, dass etwas anders war als noch vor wenigen Sekunden – oder vielleicht sogar schon Stunden? Ihre Erinnerung war eine träge Muräne, die sich nur sehr langsam und unwillig in ihrem Korallenhaus bewegte, und so brauchte Lis eine noch viel längere Blitzfischweile, bis sie begriff, das seltsame Gefühl war schlichtweg die Tatsache, dass sie keine Hitze mehr spürte. Im Gegenteil: Sie lag an einen harten Gegenstand gelehnt da und fror.
    Unter ihren Fingern ertastete sie einen ungewöhnlich glatten Stoff. Vorsichtig bewegte sie die Hand und war verwundert, keinen Schmerz zu fühlen. Lediglich als sie ihren Kopf zur Seite bewegte, stieß ihre Schläfe gegen rauen Stein. Es tat zwar weh, aber es war kein Vergleich zu einem anderen, viel größeren Schmerz, an den sie sich nur schemenhaft erinnerte. War es Feuer gewesen? Nun brannte jedenfalls nichts mehr.
    Bild für Bild flatterten ihre Erinnerungen wieder heran, fielen wie Polaroids zwischen die Blitzfische, die nach und nach verschwanden und der Erkenntnis Platz machten, das da kein Turm mehr war, keine Axtschläge gegen Holz und keine Holzstatuen eines grausamen Gottes. So ist es also, gestorben zu sein?, schoss es ihr durch den Kopf. So kalt und unbequem? Nur zur Sicherheit beschloss sie nachzusehen, blinzelte und schlug die Augen auf.
    Levin lächelte ihr zu. »Guten Morgen«, sagte er leise. Er war zwar blass, aber der Fieberglanz war aus seinen Augen verschwunden.
    Lis richtete sich vorsichtig auf und betastete den Boden, auf dem sie saß. Er war aus Beton und kühl von der Nacht. Vor ihr erstreckte sich der weiße Felsensaum der Punta. Dahinter lag, morgenblau und unberührt, das Meer.
    Levin betrachtete es, ohne ein Wort zu sagen. Als sein Handy mit einem schnarrenden Ton den Eingang einer SMS verkündete, begriff Lis endgültig, dass sie in Piran war, an irgendeinem frühen Morgen, mit dem Rücken an die Mauer des Leuchtturms gelehnt.
    Mit einer schlafwandlerisch sicheren Bewegung griff Levin zu seinem Handy und rief die Nachricht ab. »Einen Gruß von meinen Con-Kumpels«, sagte er und zog ironisch den linken Mundwinkel hoch. »Sie wünschen mir viel Spaß auf der Suche nach den Geisterschiffen.«
    Lis konnte immer noch nichts sagen. Ungläubig befühlte sie die Regenjacke, die sie wieder – oder immer noch? – trug. Wenn sie die Augen zumachte und daran schnupperte, konnte sie allerdings noch den Feuerrauch aus Zorans Hütte und Zlatas Räucherwerk erahnen. Nachdem sie mit bangen Fingern nach ihren Wunden getastet hatte, kam sie zu dem Ergebnis, dass die Stelle an ihrem Brustbein, wo der Speer sie getroffen hatte, nicht einmal einen blauen Fleck oder Kratzer aufwies und ihr verbrannter Hals sich glatt und ganz normal anfühlte.
    Wenn ich geträumt habe, wenn Antjana, Tona und Matej alle nur die Gestalten aus einem unruhigen Traum sind, dann muss das Medaillon mit der zerrissenen Kette noch in meiner Anoraktasche sein, dachte sie. Mit zittrigen Fingern tastete sie danach, voller Angst, nichts zu finden, und noch viel ängstlicher, plötzlich das Medaillon zu spüren, dunkel angelaufen und verkrustet.
    Ihre Finger stießen zwar auf etwas Hartes, aber sie atmete erleichtert auf, als sie sah, dass es nicht das Medaillon, sondern etwas anderes war – ein Ledersäckchen. Es hatte nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit ihrem Beutel mit den Eidechsenknochen. Dieses hier war beinahe farblos und vom Alter verwittert. Das Leder war nicht braun, sondern von einem hellen, staubigen Grau. In ihrer Hand fühlte es sich so ähnlich wie dickes, trockenes Papier an, das jemand vor sehr langer Zeit zusammengeknüllt hatte. Behutsam befühlte sie das Säckchen. Es knisterte in ihren Fingern. Als sie es vorsichtig umdrehte und vergilbte, dunkelbraune Knöchelchen auf ihre Handfläche fielen, erkannte sie, dass es tatsächlich ihr Eidechsenbeutel war. Im Morgenlicht dunkelten die Knochen und das Leder schnell nach, wurden innerhalb weniger Sekunden brüchig und zerfielen vor Lis’ staunenden Augen zu Staub, den der Wind davontrug. Ruhig sahen Levin und Lis zu, wie die letzte Spur von Antjana sich auflöste und verwehte, und mit ihr verschwand auch der Duft von Räucherwerk, der sie bis dahin umgeben hatte.
    Ein Motorboot schoss vorbei und hinterließ an der Stelle, an der Antjanas Stadtmauer gestanden hatte, eine weiß schäumende Furche im Wasser, die
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